Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Ranôrias Fürsprache nicht erweichen. »Ich habe den Auftrag, euch umgehend zu den Tunneln zu führen«, sprach er wieder lauter. »In dieser Nacht beginnt die Verbannung. Getrennt voneinander.«
Nein! Das überstehe ich nicht. »Meine Mutter bat dich, zu warten, bis sie …«, hob Firûsha flehend an.
»Wie ich bereits erwähnte: Aïsolon vermag mich aufzuhalten. Sonst niemand«, fiel Gàlaidon ihr ins Wort und gab ein Zeichen.
Seine Krieger rückten vor, um die Verurteilten in die Mitte zu nehmen.
Wie konnte Aïsolon sein eigen Fleisch und Blut verbannen? Was sind das für Beweise? »Wir sind unschuldig!« Sisaroths Antlitz wurde von einem Lidschlag auf den nächsten von dunklen Wutlinien überzogen wie Sprünge in reinstem Porzellan, die stahlblauen Augen färbten sich schwarz.
Zu groß wurde die Macht der Gefühle: Er sprang nach vorn und attackierte den nächstbesten Gegner.
Der Krieger wehrte den unentwegt zustoßenden Ehrendolch jedoch mit seinem Schwert ab, ein zweiter Soldat trat Sisaroth blitzschnell von der Seite in die Knie, sodass er einknickte – genau vor die bereite Klinge eines dritten.
»Halt!«, kreischte Firûsha unter Tränen und musste mitansehen, wie ihr ungestümer Bruder einen tiefen Schnitt in die rechte Wade erlitt. Blut quoll unter dem Stiefelleder hervor und sickerte auf den Mosaikboden; die grau schattierten und schwarzen Plättchen wurden vom Rot gesprenkelt. Sie dürfen ihn nicht töten!
»Mein Auftrag lautete nicht , dich umzubringen«, kommentierte Gàlaidon teilnahmslos und versetzte Sisaroth einen harten Faustschlag mit seinem Panzerhandschuh, der die Wangenhaut aufriss. »Aber ich vermag dir viele Wunden zuzufügen, wenn du es darauf anlegst. Das war für den Angriff auf meine Untergebenen. Füge dich nun, oder du wirst noch mehr Verletzungen erleiden, bevor wir dich nach Phondrasôn bringen. Willst du geschwächt an diesen Ort, junger Alb? Es gibt Wesen, die dein Blut auf Hunderte Meilen in der Luft vernehmen und danach lechzen!«
Wenn ich aufgebe, schaffen sie mich und Firûsha weg, bevor Mutter mit unserem Vater sprechen konnte. Wir brauchen Zeit. »Niemals!«, schrie Sisaroth und wollte sich erneut auf die Krieger stürzen.
Aber seine Schwester fiel ihm in den Arm und hielt ihn zurück. Dieses Mal stellte sie sich vor ihn, um ein Unglück zu verhindern. Gegen die zahlreichen Schwerter der Wachen bestand er nicht. Nicht mit der kleinen Klinge. Er darf nicht durch seine Unbeherrschtheit sterben. »Wie lange?«, krächzte Firûsha fassungslos. »Wie viele Teile der Unendlichkeit sollen wir Dsôn Sòmran für eine Tat fernbleiben, die wir nicht begingen?«
»Ein halbes Leben«, erwiderte Gàlaidon. »In zwanzig Teilen ist es euch erlaubt, nach Dsôn zurückzukehren. So lautet das Urteil.«
Zwanzig? Sie stöhnte auf. »Bei den Infamen! So lange werden wir da unten niemals überleben. Dazu noch getrennt voneinander«, wisperte sie. »Wir sind doch …«
Die grausamen Geschichten um Phondrasôn waren Firûsha in unguter Erinnerung. Durchdringendste Angst ergriff von ihr Besitz. Dass die Bestien und Kreaturen sie töteten, erschien ihr die harmloseste Untat, die ihr zustoßen konnte.
Ich bin nicht sonderlich gut im Kämpfen, und … Firûsha drehte sich zu Sisaroth um, der sich auf die Beine kämpfte. Das Blut rann weniger stark aus dem Schnitt. »Du musst mich finden und beschützen, Bruder!« Sie wollte nicht bettelnd klingen und vermochte es dennoch nicht zu verhindern. »Bitte! Ohne dich überlebe ich nicht. Ich habe nichts, außer meiner Stimme und meinen Liedern. Was taugen sie gegen Schwerter, Zähne und niedere Geister?«
Sisaroth setzte zu einer Antwort an, die gezackten Wutlinien schwanden nicht. Sie spricht Wahres, ich …
Eine Böe fegte durchs Zimmer, brachte die langen Vorhänge zum Wehen.
»Hatte Mutter Gäste eingeladen, oder wie erkläre ich mir die Anzahl von Leuten, die versammelt sind?«, erklang Tirîgons schneidende Stimme vom Eingang aus. »Ein Schaukampf zur Erbauung und Feier des Moments?«
Firûsha wirbelte herum. Ihr Bruder trug eine leichte, geschwärzte Lederrüstung, die bis zu den Knien reichte und mit Tionium verstärkt war. Der Helm klemmte unter dem rechten Arm, die linke Hand lag locker am Griff des Schwerts, das an der Seite baumelte. »Lauf!«, rief sie. »Sie wollen uns nach Phondrasôn schaffen!«
»So? Wollen sie das?« Fragend blickte er zu Gàlaidon und blieb gelöst. »Ich bin neugierig. Sag, wessen machten mein Bruder
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