Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
sich bereits weit von ihm entfernt, seinen Bruder vernahm er gar nicht mehr.
Dann schlug sein Käfig auf, hob erneut ab, kollidierte mit Fels, rollte über Gestein, verlangsamte dabei seine Geschwindigkeit, bis er fast hielt.
Alles dreht sich, und … habe ich mir Knochen gebrochen? Tirîgon gelang es, nicht das Bewusstsein zu verlieren, und er versuchte, sich in der Finsternis umzublicken.
In diesem Moment kippte sein Gefängnis über eine Kante …
Mir widerfuhr vieles.
Ich errichtete die herrlichsten Städte – und sah sie fallen.
Ich liebte die wunderschönsten Albinnen – und sah sie umkommen.
Ich folgte den Unauslöschlichen – und sah sie vergehen.
Doch in jenen Splittern der Unendlichkeit, in den Tiefen von Phondrasôn, dem Hort des Schreckens und des tausendfachen Todes, wandelte ich auf dunklen Pfaden, sah Scheusale und Sonderliches – und begegnete plötzlich Jungen Göttern an einem Ort, wo ich nichts erwartete.
Ich sah, dass Junge Götter lernen mussten – bevor sie zu Wahren Göttern wurden.
Aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Aus der Not geboren,
den Gesunden eine Burg,
eine Hoffnungsstatt, umtost von Wahn,
zwischen den Gebirgen von Ishím Voróo,
auf dass sie dort Kunde hörten von Ihresgleichen,
von den Albae,
die Tark Draan beherrschten.
Wisse: Warten ist schlimmer
als der Tod, so man ewig
lebet.
Aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Phondrasôn, 5427. Teil der Unendlichkeit (6241. Sonnenzyklus), Frühling
Firûsha blinzelte in das helle, honigfarbene Licht, das wärmend auf sie niederschien.
Zuerst glaubte sie, in den Spiegel einer Blendlaterne zu blicken, dann hielt sie es für die Strahlen der Sonne. Wie bin ich zurück an die Oberfläche gelangt?
Sie schirmte das Antlitz mit der Hand von der grellen Helligkeit ab. Das Ziehen, das ihr normalerweise zeigte, dass sich das Augenweiß in Schwarz wandelte, blieb aus. Es konnte demnach nicht das Taggestirn sein, das sie blendete.
Was mag das sein? Zwischen den schützenden Fingern hindurch sah Firûsha die Gitterstäbe, überlange grün-rote Grasstängel erhoben sich um ihr Gefängnis und schwangen in einem sachten Wind.
Ihre Sinne erwachten allmählich.
Sie roch Erde, süßen Blütenduft und reife Früchte. Gleichzeitig kamen die Schmerzen. Ihr ganzer Leib musste voller Prellungen sein, Brüche fühlte sie nicht. An ihrer Stirn brannte es leicht, und sie ertastete eine Platzwunde, die von selbst zu bluten aufgehört hatte.
»Sisaroth? Tirîgon?« Firûsha konnte sich nicht erheben, dafür war der Käfig zu klein. Daher stützte sie sich auf die Ellbogen und blickte sich um.
Sie lag umgeben von aufragendem Riesengras. Eine breite Walzspur verriet ihr, welchen Weg der Verschlag aus Gitterstäben mit ihr genommen hatte. In der Ferne sah sie einen blauen Himmel, der sich auf löchrige, graue Wände stützte. Da scheine ich rausgekommen zu sein.
Firûsha betastete das Schloss, das durch einen Riegel arretiert, aber nicht verschlossen war. Die Verbannten durften den Käfig nach ihrer Ankunft in Phondrasôn verlassen. Sofern sie es noch vermochten. Auf welch ruppige Weise ihre unfreiwillige Reise verlaufen war, ließ sich allenfalls erahnen, unterwegs musste sie ohnmächtig geworden sein. Die widrigen Umstände hatten jedenfalls dafür gesorgt, dass der Haken zur Entriegelung des Bolzens fehlte.
Nein! Firûsha rüttelte aus Leibeskräften an der Tür. Das Eisen ließ sich nicht aufstemmen, die Albin musste im Käfig verweilen. Sie stieß einen lauten Fluch aus.
»Sisaroth? Tirîgon?«, rief sie wieder und hoffte ihre Brüder in der Nähe. Was tue ich, wenn sie weit entfernt sind? Sie schauderte. Ich werde verhungern und verdursten! Dabei rieche ich die Früchte doch!
Das Echo ihrer Hilferufe rollte leise zu ihr zurück, als befände sie sich in einer Höhle.
Da verstand Firûsha, dass sie keinen Himmel über sich sah: Sie lag mitsamt ihrem Gefängnis in einer riesigen Kaverne, deren Decke sich durch eine Laune der Natur oder ausgewaschene Mineralien blau eingefärbt hatte. Oder strich sie gar jemand an? Wer könnte auf einen solchen Gedanken kommen?
Diese Erkenntnis brachte ihr nichts, solange sie sich nicht aus dem Käfig befreite. Wenn ihre Brüder nicht da waren, wer erlöste sie aus dem Käfig? Gab es Bewohner? Wie behandelten sie Gäste?
Die Geschichten, die Mutter ihr
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