Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
seinen gelegentlichen Nachfragen für den Grund ihres Hierseins bislang aus.
Da sie in meinen Diensten steht, muss sie mir die Wahrheit sagen. Oder sollte es. »Übrigens, du musst nicht fürchten, dass dir etwas geschieht, wenn wir nach Dsôn Sòmran gehen«, begann er. »Du bist lediglich aus Dsôn Faïmon verbannt worden.«
Marandëi und er betraten den anschließenden Gang hinter der Höhle, auf dessen Wände und Boden die albischen Runen eingelassen gewesen waren, die Sisaroth geführt hatten. Die Symbole sahen nun wie ausgebrannt aus, zersplittert und unschädlich gemacht.
Sie trat erleichtert die Überreste zur Seite. »Der Bann ist mit der Zerstörung des Turm gebrochen. Keiner unseres Volkes wird mehr in diese Falle gelockt.« Sie stieß mit dem Stab auf den Boden, woraufhin die Intarsien im Holz schwach aufleuchteten. Die Helligkeit reichte zum Sehen aus. »Fort von diesem Ort.«
Sisaroth ging neben ihr, hielt Schwert und Schild bereit. Es ist ruhig. Die Scheusale scheinen allesamt im Steinregen umgekommen zu sein.
Schweigend und aufmerksam schritten sie durch den Gang.
»Du schuldest mir noch eine Antwort«, erinnerte Sisaroth sie.
»Ich bin nicht verbannt worden«, entgegnete Marandëi leise und hob das Kinn. »Ich bin … geflüchtet.«
Welche Bedrohung vermag groß genug zu sein, um sie dazu gezwungen zu haben? »Weil du einen Mord begingst und du der Rache der Familie entgehen wolltest«, mutmaßte er.
Marandëi stieß den Stock mit Wucht nieder, was ein Nein oder Ja bedeuten konnte. »Ich flüchtete vor meiner eigenen Zunft«, gestand sie. »Ich wusste, dass die Gelehrten mich jagten. Kein Fleckchen in Dsôn Faïmon hätte als Unterschlupf getaugt. Und eine Verbannung hätten sie niemals als Richtspruch hingenommen.«
Sisaroth wurde neugierig. »Dann bestahlst du einen von ihnen? Ging es um ein Artefakt?« Seine Augen richteten sich auf ihren Stab. Ihn sogar? »Oder eine Formel?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich tötete meinen Meister. Vorsätzlich.« Die Albin biss sich auf die Unterlippe, eine Blutperle sickerte das Kinn herab. »Weil ich ihm beweisen wollte, dass ich besser bin als er.«
Nachtschwarze Eiche, mondbeschienen,
blattlos, tote Äste, doch wächst an ihnen
eine besondere Frucht, deren strenger Duft
die Fliegen und die Krähen lockt.
Und unter der alten Eiche hockt
ein hungriger Fuchs und wartet, bis es gibt,
was er so liebt.
Baumesfrucht pendelt,
Baumesfrucht verrottet,
Baumesfrucht verspottet,
von den Wanderern, die mit schnellem Gang
schreiten voran.
Und der Wind spielt mit dem Toten,
lässt ihn gar am Stricke tanzen,
über den schimmelnden Leib klettern die Wanzen,
die sich laben am faulenden roten Fleisch.
Der Fuchs springt, beißt sich einen Brocken
vom Schenkel, frisst und bleibt an der Eiche hocken.
Baumesfrucht pendelt,
Baumesfrucht verrottet,
Baumesfrucht verspottet,
von den Wanderern, die mit schnellem Gang
schreiten voran.
Grundlos gehängt von solchen Leuten,
die sich an seinem Leid erfreuten.
Sie feierten danach ein ausgelassen Fest.
Doch wütet nun die Pest,
die er ihnen unwissend brachte.
So kam’s, dass der Tod
zweimal lachte.
Baumes Frucht, aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Phondrasôn, nach dem 5427. Teil der Unendlichkeit
Firûshas Angst steigerte sich, je mehr beerenähnliche Kokons aufbrachen und die Insekten freigaben. Das Zischen schwoll an und erinnerte an einen schnell fließenden, immer größer werdenden Bachlauf.
Wir schaffen es niemals im Leben. »Du bist zu langsam! Lass mich raus!«, rief sie und rüttelte an den Stäben. »Ich kann vor ihnen davonrennen!«
Er gab keine Antwort, sondern zerrte den Schlitten hinter sich her. Die Geschwindigkeit war beeindruckend, mit der er das Gewicht durch die Höhle zog. Aber sie genügte Firûsha nicht.
Die Insekten breiteten winzige Flügel aus, sprangen und segelten durch die Luft und kamen den beiden Albae bedrohlich nahe.
Mehr als fünf oder sechs Hüpfer werden sie nicht brauchen, um uns einzuholen. »Lass mich raus, Crotàgon!«, schrie sie verzweifelt. »Bitte! Wir müssen den Proviant und die Ausrüstung aufgeben, wenn wir leben wollen.«
Der breitschultrige Alb hielt an. Aber nicht, weil er auf sie hörte, sondern weil der Ausgang ungefähr hundert Schritt vor ihnen durch eine Gerölllawine verschüttet war.
»Da vorn gibt es kein Entkommen«, sagte er – und öffnete endlich die
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