Die Legenden der Albae: Tobender Sturm (Die Legenden der Albae 4) (German Edition)
hauste.
Wie meist trug er ein schwarzes Gewand, das seinen breit gebauten Leib verhüllte. Das rechte Bein zog er leicht nach, seit ihn eine Blutvergiftung beinahe das Gliedmaß gekostet hatte. An Kraft nahm er es immer noch mit jedem Krieger im Stadtheer auf, die Geschwindigkeit jedoch hatte nachgelassen, wie Irïanora wusste.
Seine schärfste Waffe, mit der er bestens umzugehen wusste, war sein Verstand. Und genau diesen fürchtete sie.
»Nicht nur das. Wir arbeiten. Ich bat ihn darum, die Umgebungskarte zu prüfen«, log sie und deutete eine Verbeugung an. Bethòras tat es ihr nach.
»Was kam dabei heraus?« Shôtoràs hatte sie erreicht und strich das volle, hellgraue Haar zurück, das bis auf den Nacken reichte. Um sein Kinn glitzerte ein lichter Bart.
»Es gab Kleinigkeiten zu berichtigen«, erklärte der junge Alb und räusperte sich. Er wandte sich zur Seite und gab den Blick auf die Aufzeichnungen frei; in aller Kürze fasste er zusammen, was sich zwei Meilen vor dem Berg getan hatte.
»Bäume. Wie sie wachsen und sich nach oben strecken«, sinnierte Shôtoràs und sah zum Fluss Tronjor, »als gäbe es für sie in den Wolken etwas zu erobern oder zu stützen.« Er lächelte zufrieden. »War es nicht ein Glück, dass uns die Schöpferin an diesen Ort brachte?«
» Du brachtest die Überlebenden hierher, Oheim«, verbesserte Irïanora freundlich. »Dafür gebührt dir der Dank von Dsôn Dâkiòn bis über jegliche Endlichkeit hinaus.«
Der Regent lachte auf. »Meine Endlichkeit . Wie wenig ich daran denke. Und doch sollte ich es wohl. Ich lebe bereits viele Teile der Unendlichkeit.« Seine Miene wurde ernster, der Blick versonnen. »Wie sehr schmerzte es mich, Dsôn Faïmon untergehen zu sehen. Und wie weh tat es, die vielen kleinen Städte meines Volkes an die Barbaren und Scheusale zu verlieren, nachdem wir uns sicher vor den Wandelnden Türmen glaubten. Und weswegen unterlagen wir? Weil keine Einigkeit unter uns herrschte.«
Nicht schon wieder. Irïanora wusste, was gleich kommen würde: eine Abhandlung über das Erlebte und Durchlittene, was sie selbst lediglich aus Erzählungen kannte. Die Vertreibung durch die Dorón Ashont; die langen Irrungen durch Ishím Voróo; wie die Albae immer weniger wurden und Shôtoràs schließlich eine kleine Schar weit nach Norden führte, um sich auf diesem Berg in den gewaltigen Festungsresten niederzulassen und ein eigenes Reich zu festigen. Er ist schon zu alt.
Shôtoràs stampfte mit dem Stock auf, es knallte und klirrte zugleich. »Aus den schwarzen Ruinen, die uns längst vergangene Riesen hinterließen, schufen wir die neue Heimat, ganz ohne die Unauslöschlichen. Nun leben wir unbehelligt und sicher. Weil wir uns einig sind. Die anderen Stadtstaaten blieben wegen ihren eigenen Streitigkeiten anfällig für Angriffe der Bestien.« Er lachte bitter auf. »Kriege zwischen den Albae. Kriege! Man stelle sich das vor, in welchen verwirrenden und grausamen Zeiten wir einst leben mussten.«
Irïanora stöhnte gelangweilt. »Wir wissen von den Befindlichkeiten und alten Feindschaften zwischen den Familien und den politischen Gegnern«, sagte sie mit leidendem Unterton. »Oheim, du erzähltest mir so viele Geschichten über …«
»Nur zwei Städte überlebten dieses blutige Durcheinander. Wir, Dsôn Dâkiòn, die Stolze, und Dsôn Elhàtor, die Erhabene«, fuhr der alte Alb fort, ohne sich um ihren Einwand zu kümmern.
Bethòras lehnte sich gegen eine Zinne und lauschte aus Höflichkeit den regentschaftlichen Ausführungen.
»Keine dieser Städte wurde jemals erobert. Auch wenn ich Modôia und ihrem Sohn nicht traue, so achte ich sie«, parlierte Shôtoràs vor sich hin. »Trotz ihres jungen Alters und obwohl sie aus Tark Draan kommt.«
»Eigentlich stammt sie aus Dsôn Sòmran, das einst im Grauen Gebirge lag, sagt man«, warf Irïanora ein und verlor das Lächeln. Er hatte ihre Besprechung unterbrochen, um zu faseln, weil er sich offenkundig in seinem Palast alleine fühlte. Eine Geduldsprobe sondergleichen.
»Verzeih.« Shôtoràs bemerkte anscheinend endlich, dass er sie mit seinen Monologen langweilte. Er hob den Stock und tippte sich mit dem Griffende, das einem Raubvogelschnabel nachempfunden war, gegen das bärtige Kinn. »Wie kam ich darauf?«
»Die Bäume«, half Bethòras beflissen.
»Ach ja. Die Bäume.« Der ergraute Regent seufzte. »Das erinnert mich an die Zeiten im alten Dsôn, als ich noch zu den Gestirnen gehörte, also jenen Albae mit
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