Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
hatte, waren die Piraten vermutlich nicht allzu wählerisch.
Es dauerte länger als sonst. Normalerweise zog Dad es vor, am Vortag mit Stumpy in den Hafen zu fahren, um ein Boot klarzumachen, doch diese Fahrt hatten wir so überstürzt angetreten, dass dazu keine Zeit gewesen war. Also brutzelten wir fast eine halbe Stunde lang in der Kutsche, bis mein Hemd schließlich so durchgeschwitzt war, dass es nicht mal mehr kratzte. In der Zwischenzeit trieb sich Dad auf den Kais herum, fragte ein halbes Dutzend Kandidaten aus und wedelte von Zeit zu Zeit mit den Pistolen herum, wenn er mit Worten nicht weiterkam.
Irgendwann fand er ein Boot – einen namenlosen, verdreckten Zehn-Meter-Kahn mit einer Drehbasse im Bug und einem Ruderboot, das am Achterdeck festgebunden war. Das Ruderboot war entscheidend, denn Piraten durften in Morgenröte nicht anlegen, und wer immer uns dorthin bringen würde, müsste außer Reichweite der Uferkanonen Anker werfen, während wir die restliche Strecke an Land ruderten.
Die beiden Männer, die unsere Besatzung bilden würden – der eine kurz mit dem Körperbau eines Ochsen, der andere groß und dunkel, mit einer schwarzen Mähne, die ihm über die Schultern hing –, stanken nach Rum und Männerschweiß, beide hatten kleine Flammentätowierungen auf dem Hals. Es war das Erkennungszeichen der Männer von Burn Healy. Von all den Kapitänen, die auf den Blauen Meeren plünderten, war Healy sowohl der gefürchtetste als auch der erfolgreichste – der siegreiche Kampf der Piraten gegen die cartagische Marine, den wir während des Barker-Krieges vom Felsen des Verderbens beobachtet hatten, war sein Verdienst, auch wenn er schon vorher berüchtigt gewesen war. Man konnte davon ausgehen, dass jeder Mann mit Flammentätowierung auf dem Hals ein kaltblütiger Mörder war.
Deshalb konnte ich nicht verstehen, warum Dad immer darauf bestand, ausgerechnet sie anzuheuern, wenn wir ein Boot für die Überfahrt nach Morgenröte brauchten. Einmal, als ich meinen ganzen Mut zusammennahm und ihn danach fragte, zuckte er bloß die Achseln.
»Healy-Leute verstehen ihr Geschäft«, sagte er nur.
Das ließ sich nicht leugnen – wir kamen jedes Mal schnell dorthin und entgegen ihrem Ruf hatte uns bisher kein Healy-Pirat die Kehle aufgeschlitzt. Sie hatten allerdings die Angewohnheit, die Preise nachzuverhandeln, sobald Selighafen in Sichtweite kam, so dass Dad grundsätzlich das Doppelte dessen bezahlte, was er in Galgenhafen vereinbart hatte.
Wir brachen auf und irgendwie gelang es den beiden Piraten, der stehenden Luft von Dreckswetter genügend Wind abzutrotzen, um uns aus dem Hafen und hinaus aufs offene Meer zu bringen, wo wir eine Brise von Morgenröte erwischten. Adonis und Venus machten in der Zwischenzeit ein Nickerchen im Frachtraum, Percy sonnte sich wie eine Schildkröte auf dem Vorderdeck, während ich mit zusammengekniffenen Augen mittschiffs lag und mir Mühe gab, seekrank auszusehen. Aus Erfahrung wusste ich, dass mich die anderen in Ruhe ließen, wenn sie befürchteten, ich könnte sie vollkotzen.
Ein Auge behielt ich allerdings heimlich halb offen, damit ich Dad beobachten konnte, der mit demselben verwirrten Gesichtsausdruck wie am Vortag achtern saß. Nachdem er lange die Mannschaft beäugt und dabei zugeschaut hatte, wie sie durch den Wind lavierten, griff er, als er sich unbeobachtet glaubte, in die Innentasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Stück Pergament heraus.
Er starrte eine Weile darauf und kaute auf seiner Lippe herum. Irgendwann schaute er über das Deck hinweg mit zusammengekniffenen Augen zu Percy, als denke er über etwas nach. Doch dann schüttelte er den Kopf.
Er faltete das Pergament sorgfältig zusammen und schob es in seine Jacke zurück. Danach flüsterte er etwas vor sich hin, gerade laut genug, dass ich folgende Worte verstehen konnte: »Geht nicht anders … Muss einen Eingeborenen finden.«
Ich grübelte eine Weile, was er damit meinen könnte. Hätte ich mal lieber länger darüber nachgedacht.
Morgenröte war atemberaubend, sogar noch hübscher, als der Name vermuten lässt. Der größte Teil der Küste bestand aus hohen Felsen, die senkrecht aus dem Meer emporragten, doch links und rechts von Selighafen flachten die Klippen zu einem überwältigend weißen Sandstrand ab, der wie Diamantenstaub glitzerte. Der Großteil der Insel war mit sattgrünem Wald bedeckt, der sich die Hänge hochzog, bis er plötzlich auf halbem Weg zum Himmel dem
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