Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
die Straße aus, bis er schließlich vor der Anwaltskanzlei stand.
Es war ein winziges zweistöckiges Gebäude mit einem Holzschild über der Veranda, auf dem JULIUS ARCHIBALD – RECHTSDIENSTLEISTUNGEN stand. Während wir anderen am Straßenrand warteten, stieg Dad die flachen Stufen hinauf und klopfte an die Tür.
Ein kleiner Mann öffnete. Er war so winzig, dass er durch seine Brillengläser direkt auf Dads Brust starrte. Sein Blick wanderte nach oben, bis er ihm schließlich in die Augen sah.
»Masterson. Ganz schön früh im Jahr. War die Ernte ein Misserfolg?«
Dad schüttelte den Kopf. »Ich brauch Beratung. Klartext und unter vier Augen.«
»Selbstverständlich. Gegen ein bescheidenes Entgelt.«
Dad legte fünf Münzen in die Hand des winzigen Mannes, immer eine nach der anderen. »Hier hamse zwei für Ehrlichkeit. Drei für Verschwiegenheit.«
Die Münzen verschwanden in der Westentasche des Anwalts. »Bitte. Treten Sie ein.«
Dad war schon halb im Büro, als Venus uns rettete. »Dad! Wir sterben vor Hunger!«
»Ach ja.« Er ging auf die Straße zurück und kramte nach ein paar kleineren Münzen, die er Percy überreichte. »Keinen Marmeladenkuchen. Und streunt nicht rum.«
Bevor er seinen Satz beendet hatte, waren wir weg.
Vor uns standen zwei andere Kunden für Grillfleisch an und die Minute, die sie zum Bestellen brauchten, erschien uns wie eine Stunde. Während Adonis mit dem Bein schlenkerte und Venus auf den Fingerknöcheln herumkaute, starrte Percy mit finsterer Miene auf ihre Hinterköpfe.
»Ich will Vogel. Zwei Stück.«
»Ich auch.«
»Mir ist alles recht.« Was stimmte. Ich war so hungrig, dass ich die verkohlten Reste vom Grill genagt hätte, ohne abzuwarten, dass er abkühlte. Außerdem gingen konkrete Wünsche bei mir immer nach hinten los.
Kaum hatte der Kunde vor uns seinen Spieß in Empfang genommen, schubste Percy ihn zur Seite, knallte die Faust auf die Theke und beugte sich so weit vor, dass der Verkäufer beinahe rückwärts in den Grill fiel. »Doppelte Portion von der Lammspezialität, zwei Rotkardinäle mit Knochen und …« Percy drehte sich zu mir um. Da ich wusste, dass seine Bestellung umso fieser ausfallen würde, je hungriger ich aussah, versuchte ich, gelangweilt zu wirken. »Gibt’s hier eingelegte Ratte?«
Anscheinend sah ich aus, als wäre ich kurz vorm Verhungern.
»Sir, das hier ist ein anständiger Betrieb. Ratte gibt es bei uns nicht.«
»Was ist das Billigste?«
»Innereien.«
»Welche?«
»Von allem etwas. Hirn, Bauchspeicheldrüse, Milz –«
»Das nehmen wir.«
»Wird im Brötchen serviert.«
»Klemm dir das Brötchen.«
Die Innereien waren eigentlich gar nicht so übel, allerdings hätte es mir besser geschmeckt, wenn ich nicht gewusst hätte, was es war. Da meine Portion kleiner war und ich kein besonderes Interesse daran hatte, die Innereien durchzukauen, war ich als Erster fertig und beobachtete ein Weilchen die Menge.
Äußerlich ähnelten die Passagiere des Kreuzfahrtschiffs den meisten Bewohnern von Morgenröte – sie sahen rovisch aus, waren aufwendig gekleidet und von uns sichtlich angewidert. Doch es gab kleine Unterschiede. Bis auf einige, deren Haut im Gesicht und im Nacken von der Sonne verbrannt war, hatten sie hellere Haut. Ihre Kleider – Jacken mit drei Knöpfen, Halstücher, Röcke mit Turnüren – waren sowohl eleganter als auch ungeeigneter für das Wetter als die Seide und Baumwolle, die die Bewohner von Morgenröte trugen. Sie litten deshalb in der Mittagshitze, den Männern rannen unter dem Zylinder Schweißperlen über die Stirn, die Frauen hielten Schirmchen und fächelten sich Luft zu.
Trotz der Hitze rochen sie alle ungewöhnlich angenehm – als hätten sie sich mit Lavendel abgerieben.
Die Blicke, die sie uns zuwarfen, als wir an der Imbissbude standen – meine Geschwister und Percy nagten immer noch an ihrem Essen herum, das sie mit beiden Händen in den Mund stopften –, waren verwirrt wie sonst was. Sie schienen sich nicht vorstellen zu können, was wir auf Morgenröte zu suchen hatten. Im Vorbeigehen machten sie einen großen Bogen um uns, wobei sie leicht den Kopf drehten, um uns noch ein paar Meter im Blick zu behalten. Als wären wir unberechenbare wilde Tiere, die sich jeden Moment auf sie stürzen könnten.
Eine fünfköpfige Familie lief an uns vorbei, der jüngste Sohn starrte mich mit Glubschaugen an und ich wollte schon aus Blödsinn die Zähne fletschen, als Dads Stimme mich
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