Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
tränenreiche Dankbarkeit von Millicent und ihren Eltern eintrug, dass, als Healys Körper zu Boden ging, in Minutenschnelle beschlossen wurde, dass wir eines Tages heiraten würden.
Jetzt klingt das natürlich verrückt. Aber so sehr liebte ich Millicent nun mal – ich hätte Piraten für sie getötet. Und nicht nur ein paar Piraten. Heerscharen von ihnen.
So war es also nach drei Wochen um meine geistige Verfassung bestellt, als Mr Pembroke Millicent und mich auf dem Weg zu unserem Nachmittagsausritt in der Eingangshalle anhielt. Er war an diesem Morgen vor dem Frühstück aufgebrochen, um etwas in Selighafen zu erledigen, und kam genau in diesem Moment mit einem Stapel Unterlagen zur Tür herein.
»Herzblatt, wieso gehst du heute nicht mal alleine los? Ich muss ein paar Dinge mit Egg besprechen.«
»Beeil dich, Daddy. Allein auszureiten macht keinen Spaß.« Millicent streckte ihm die Zunge heraus. Dann drehte sie sich zu mir. »Ich reite den Wiesenpfad hinauf. Mal sehen,ob du es schaffst, mich einzuholen.«
Wir sahen ihr beide hinterher. Schließlich legte mir Roger Pembroke eine Hand auf die Schulter.
»Komm in mein Arbeitszimmer. Da haben wir es gemütlicher.«
Als ich mich schließlich in einen der großen Ledersessel vor Mr Pembrokes Schreibtisch setzte, fühlte sich mein Magen dumpf und flattrig an und mein ganzer Körper schwach. Es war klar, dass sich etwas für mich ändern würde, und zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich nicht , dass sich etwas änderte.
Pembroke lehnte ein Stück von mir entfernt mit verschränkten Armen am Tisch.
»Deine Familie ist nun schon seit drei Wochen verschwunden. Der letzte Suchtrupp, den ich losgeschickt habe, ist zurückgekehrt. Wie auch die anderen hat er keinerlei Spuren gefunden. Und …«
Er holte tief Luft. »Auf Grund der Windverhältnisse und der unermesslichen Weite des Ozeans westlich von uns gehe ich davon aus – und da will ich ganz ehrlich sein, denn so schmerzhaft es ist, du bist ein sehr intelligenter junger Mann und verdienst, die Wahrheit zu erfahren –, ich gehe davon aus, dass die Überlebenschancen so gut wie –«
Er redete weiter, doch ich hörte ihn nicht mehr, weil mir ein Bild durch den Kopf ging: meine Familie im Ballon, die mitten in der Nacht ins dunkle Meer stürzte, Hunderte von Kilometern von der Küste entfernt –, und mit einem Mal war mir schwindlig und ich hatte Angst und mir war übel und ich wusste, dieses Bild musste ich aus meinem Kopf verbannen und nie wieder daran denken, sonst würde ich zusammenbrechen.
Zum Glück redete Pembroke noch immer und ich konnte mich ablenken, indem ich genau auf jedes Wort hörte, das aus seinem Mund kam, auch wenn sie sich nicht mehr zu Sätzen zusammenfügten und ich einen Augenblick überhaupt nichts mehr begriff.
»– was dich zur Waise macht. Es tut mir leid … Aber du sollst wissen, dass wir uns um dich kümmern werden. Mehr als das: Da ich mich in gewisser Weise für das, was passiert ist, verantwortlich fühle und wir dich in den letzten Wochen alle lieb gewonnen haben – haben Edith und ich uns unterhalten. Und ich war gerade bei Mr Archibald, unserem Anwalt. Und …«
Er zog ein Blatt aus dem Papierstapel, den er aus Selighafen mitgebracht hatte, und reichte es mir. »Wir hoffen, dass du dich unserer Familie anschließt.«
Es war eine einzelne, dicht in winzigen Buchstaben beschriebene Seite mit der Überschrift ADOPTIONSURKUNDE. Unten waren zwei Linien für unsere beiden Unterschriften. Pembroke hatte bereits unterschrieben.
Ich starrte auf die Wörter, doch ich war immer noch so benebelt, dass ich nichts verstand. Wahrscheinlich sah ich genauso verwirrt aus, wie ich mich fühlte, denn er wiederholte sein Angebot, dieses Mal deutlicher.
»Wir möchten dich adoptieren, Egg. Wenn du dieses Dokument unterzeichnest, werde ich dein gesetzlicher Vater sein.«
Ich konnte ihn bloß anstarren. Das hier war zu viel für mich.
Ich weiß nicht, wie lange das Schweigen andauerte, doch irgendwann kam Pembroke auf mich zu, um das Dokument wieder an sich zu nehmen.
»Es ist noch zu früh. Es tut mir leid.«
»Nein, es ist –« Ich hielt es fest, weil ich sah, dass er enttäuscht war, und auch wenn in mir das völlige Chaos herrschte und ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, wusste ich doch, dass ich ihn nicht enttäuschen wollte.
Ich zwang mich, etwas zu sagen. Meine Stimme war total zittrig. »Sie waren so nett und Sie sind alle so lieb und« – ich konnte
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