Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Treppe hoch. Als ich an mehreren plündernden, betrunkenen Piraten vorbeilief, drückte ich das Kinn gegen die Brust und versuchte, unter meinem hochgeschlagenen Hemdkragen das Zeichen zu verdecken.
Mit »Ripper« war mit großer Wahrscheinlichkeit Ripper Jones gemeint und mir grauste vor dem, was passieren würde, wenn er die Tätowierung entdeckte. Er war berüchtigt für seine Brutalität – wie die meisten Piraten der Blauen Meere kam er von Zeit zu Zeit nach Dreckswetter, und wenn er davonsegelte, ließ er Leichen zurück. Als wir vor zwei Jahren mal den Berg runterkamen, um Vorräte zu kaufen, fanden wir drei verbrannte, geköpfte Leichen vor, die über der Hauptstraße in der Luft baumelten. Einer von ihnen hatte mit Ripper gewürfelt und den Fehler begangen zu gewinnen. Der Zweite hatte um Gnade für den Ersten gefleht. Der Dritte war der Kneipenbesitzer. Er hatte Ripper gefragt, ob es ihm etwas ausmachen würde, die Leichen nicht direkt vor dem Kneipeneingang aufzuknüpfen.
Es war allgemein bekannt, dass Ripper Jones Burn Healy hasste. Ich hatte keine Ahnung, wieso – vielleicht war es Konkurrenzdenken. Doch während in Galgenhafen die meisten Piratenkapitäne und ihre Besatzungen miteinander verkehrten, so freundschaftlich es bei Piraten eben ging, blieben die Mannschaften von Healy und Jones auf Abstand, tranken in unterschiedlichen Kneipen und kreuzten den Weg des anderen nur, um ihn umzubringen.
Wenn Ripper Jones hier das Kommando hatte, war es vermutlich das Beste, dieses Schiff so schnell wie möglich zu verlassen. Doch zuerst musste ich die Ketten an meinen Armen und Beinen loswerden, was wiederum bedeutete, dass ich Big Jim finden musste. Wer immer das war.
Ich passierte die Kabinendecks, die lautstark geplündert wurden, dann das Batteriedeck, wo zwei Piraten die Hockeystöcke gefunden hatten, mit denen sie nun aufeinander einprügelten. Schließlich trat ich ins Sonnenlicht auf dem Hauptdeck. Der Nebel hatte sich längst gelichtet, und obwohl die Sonne schon langsam unterging, fühlte sie sich auf meinem Gesicht noch immer heiß an.
Das Erste, was mir auffiel, war der riesige Kleiderhaufen in der Mitte des Decks. Er war locker anderthalb Meter hoch und dreimal so breit. Ein paar Piraten liefen darum herum und probierten Klamotten an.
Einer trug ein Ballkleid. Was seltsam aussah.
Aber wahrscheinlich weniger seltsam als ein Junge in Ketten. Als ich mich dem Haufen näherte und anfing, darin herumzusuchen – mir war ein Gedanke gekommen und ich wollte ihn umsetzen, bevor mich jemand aufhielt –, bemerkten mich die Männer nach einer Weile und starrten mich mit offenem Mund an.
»Wer bist’n du?«, fragte der im Ballkleid.
»Ich war ein blinder Passagier.« Während ich den Haufen durchwühlte, drückte ich wieder mein Kinn auf den Hals, was vermutlich auch seltsam aussah. »Sie haben mich für einen Auftritt vor den Passagieren in Ketten gelegt.«
»Dann bedank dich mal schön bei uns. Und wink den feinen Leuten artig zum Abschied zu.«
Er deutete über das Deck aufs Meer. Ich blickte über die Reling. Ungefähr hundert Meter vom Schiff entfernt entdeckte ich acht Beiboote hintereinander – sämtliche Barkassen der Irdischen Freude , jede bis oben hin mit Passagieren vollgepackt.
Sie trugen bloß noch Unterwäsche.
Diejenigen im ersten Boot waren nahe genug, dass ich ihre Gesichter erkennen konnte. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, aber ich hätte schwören können, dass ich den Kapitän mit den knochigen Schultern sah, der Pilcher – ein bleiches, heulendes Häufchen Elend – mit Blicken durchbohrte.
Ich musste wieder an diese schrecklichen Minuten im Joch denken. Und für einen Augenblick ertappte ich mich bei dem Gedanken, dass diese Piraten hier vielleicht gar nicht so böse waren.
»Danke«, sagte ich zu dem im Ballkleid.
Sie grinsten alle. Einer von ihnen klopfte mir auf den Rücken. »War uns ein Vergnügen, Kumpel.«
Ich wühlte weiter in dem Haufen herum. Nach ein paar Minuten fand ich, wonach ich gesucht hatte – ein langes rotes Herrenhalstuch, nicht gebunden und wüst zerknittert. Ich versuchte, mich nicht mit den Ketten um meine Handgelenke zu schlagen, und schaffte es, mir das Tuch so um den Hals zu binden, dass es das Healy-Zeichen verdeckte.
Als ich aufblickte, merkte ich, dass mich der Pirat im Ballkleid amüsiert betrachtete.
Ich zuckte die Achseln. »Wollte schon immer ein Halstuch haben.«
»Is wohl dein Glückstag, was?«
»Hast du
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