Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
eine Ahnung, wo Big Jim steckt? Jemand meinte, er hätte vielleicht einen Schlüssel für diese Dinger.«
»Versuch’s mal auf der Poop.«
Er nickte mit dem Kopf in Richtung des erhöhten Decks im hinteren Teil des Schiffs, über den Kabinen auf dem Achterdeck. Als ich auf die Leiter zuging, die zur Poop hinaufführte, kam ich an Pilchers Kabine vorbei.
Aus dem Inneren hörte ich einen Schrei.
Es war ein schreckliches Geräusch, so schmerzerfüllt und mitleiderregend, dass es mir den Magen umdrehte. Ich hätte gern die Tür geöffnet und wäre dazwischengegangen, aber da ich wusste, dass ich dabei mein Leben aufs Spiel setzte, kletterte ich lieber schnell die Leiter hinauf. Weil meine Fußfesseln so eng waren, dass ich keine ordentlichen Schritte machen konnte, musste ich mich mit unbeholfenen Froschsprüngen von einer Sprosse zur nächsten bewegen. Trotzdem schaffte ich es unglaublich schnell, schließlich wollte ich nur weg von diesem Geräusch und mich nicht mehr schämen müssen, dass ich nicht eingegriffen hatte.
Und ich wusste, dass ich mich in den Piraten getäuscht hatte. So freundlich sie auch zu mir gewesen sein mochten, sie waren allesamt böse. Und je schneller ich ihnen den Rücken kehren konnte, desto besser.
Auf der Poop standen mehrere Männer, rauchten Zigarren und ließen Flaschen kreisen, deren Inhalt nach Whisky aussah. Hinter dem Steuerrad, das nicht festgemacht und ohne Steuermann war, lag ein kleiner Kleiderhaufen auf dem Deck.
Auch diese Männer rissen bei meinem Anblick Witze über meine Ketten. Ich erklärte ihnen, dass ich ein blinder Passagier gewesen war und nach Schlüsseln suchte und gehört hatte, Big Jim hätte vielleicht welche.
»Jim!«, grölte einer von ihnen und trat gegen den kleinen Kleiderhaufen, der sich als der winzigste Mann herausstellte, den ich je gesehen hatte. Er war nicht größer als ein Junge, seine Beine waren jedoch stämmig und muskulös, sein Gesicht ebenso grau wie das der anderen, und als er sich aufrappelte, war klar, dass er ordentlich einen über den Durst getrunken hatte.
Um seinen Hals hing ein großer Ring mit Schlüsseln, doch er war dermaßen benebelt, dass es mehrerer Nachfragen bedurfte, bis er kapierte, warum wir ihn geweckt hatten.
Endlich schwankte er auf mich zu und sah sich das Schloss meiner Handschellen an. Anschließend unternahm er einen wirren Versuch, den Ring mit den Schlüsseln durchzusehen, gab jedoch irgendwann frustriert auf und drückte mir die ganze Schlüsselsammlung in die Hand.
»Ach! Such selber.« Er rollte sich hinter dem Steuerrad zum Schlafen zusammen und ich setzte mich aufs Deck und suchte nach einem Schlüssel, der passen könnte.
Ich hatte schon fast den ganzen Ring durch und machte mir allmählich Sorgen, da fand ich endlich einen, der für beide Kettenschlösser passte. Schnell befreite ich mich, hängte Big Jim, ohne sein Schnarchen zu unterbrechen, wieder den Ring um den Hals und ging zu der Leiter, die zu dem tiefer gelegenen Deck führte.
»Was’n! Lässte deine Ketten hier rumliegen? Willste die nich ham?«, rief einer der Piraten.
»Schon in Ordnung«, erwiderte ich und bemühte mich, freundlich zu klingen, als ich schnell die Treppe hinunterkletterte.
Zurück auf dem Hauptdeck verhielt ich mich möglichst unauffällig, während ich den Blick über den Ozean ringsum schweifen ließ. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen segelten wir Richtung Norden. Steuerbord war ein zweites Schiff – eine schnittige, schwer bewaffnete Fregatte, die Ripper Jones’ Schiff sein musste. Ein paar Ruderboote fuhren zwischen ihr und der Irdischen Freude hin und her und brachten Beute zu dem Piratenschiff.
Achtern auf der Backbordseite wurden die Beiboote mit den Passagieren der Irdischen Freude am Horizont im Südwesten immer kleiner. Sie ruderten wild, doch ob sie ein anderes Ziel hatten, als den Piraten zu entkommen, konnte ich von hier aus nicht erkennen.
Im Norden erspähte ich in zwei oder drei Kilometer Entfernung eine relativ große Insel. Es war nicht auszumachen, ob sie bewohnt war, doch so saftig grün, wie sie war, ging ich davon aus, dass es dort Wasser und vielleicht auch essbare Früchte geben würde. Schwimmend würde ich es vermutlich vom Boot aus nicht schaffen, doch wenn wir weiterhin in diese Richtung trieben – die Segel beider Schiffe waren gestrichen –, würden wir vielleicht irgendwann nahe genug herankommen, dass ich einen Versuch wagen könnte.
Ich überlegte gerade, ob mich selbst
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