Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
waren sogar der Meinung, dass er es als Waffe einsetzen könnte.
Wir würden kämpfen, bis einer von uns tot war. Keiner erwartete ernsthaft, dass ich gewinnen würde, nicht mal die, die auf mich setzten.
Je länger ich warten musste, desto flauer wurde mir im Magen. Ich war an diesem Tag bereits die Unterhaltungseinlage für die Touristen gewesen. Dieses Mal versprach es noch schlimmer zu werden. Wenn ich daran geglaubt hätte, dass ich es bis zur Reling schaffen könnte, ohne dass sich einer auf mich stürzte, wäre ich über Bord gesprungen.
Ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Menge beobachtete. Auf der anderen Seite des Decks standen ein paar Piraten abseits von den anderen. Sie hatten dunklere Haut als ihre Kumpel und dieselben Miniohren wie Ripper Jones, und als ich irgendwann einen Fetzen ihrer Unterhaltung aufschnappte, die wie breiiges Gestotter klang, wurde mir schließlich klar, dass sie eine andere Sprache sprachen. Sie schienen Cartagier zu sein, das überraschte mich. Ich hatte noch nie einen mit eigenen Augen gesehen und wäre nie auf den Gedanken gekommen, Ripper Jones könne sie nicht nur in seiner Mannschaft haben, sondern selbst einer sein – was allerdings nicht nur seine Ohren, sondern auch seinen schleppenden Akzent erklärte.
Gegen Ende der Warterei, als das Boot mit Guts andockte und das Netz heruntergelassen wurde, um ihn hochzuziehen, machte einer der weniger betrunkenen Piraten aus der ersten Reihe zu meiner Rechten, der mich eine Weile neugierig gemustert hatte, schließlich den Mund auf.
»Du bist von Dreckswetter, hab ich Recht?«
Ich nickte. Er grinste anerkennend. »Genau! Du bist der Sohn von diesem Obstpflücker! Hab dich in Galgenhafen gesehen. Wo is’n dein Vater?«
»Er ist tot«, antwortete ich.
Der Mann zuckte die Achseln. »Mach dir nichts draus. Vielleicht biste bald bei ihm.«
Die Menge stieß Jubelgeschrei aus, als das Netz mit seiner zappelnden menschlichen Fracht über die Reling kam. Jemand knüpfte es auf und Guts taumelte heraus.
Er sprang schnell auf; er war klein und schmächtig, und unter einem Schopf zerzauster Haare, die ihm über die Schultern reichten und so blond waren, dass sie fast weiß aussahen, blickte er hektisch um sich. Sein Kopf und seine Gliedmaßen zuckten unberechenbar – als wäre er ein gefangenes, verzweifeltes Tier.
Er hätte alles zwischen neun und sechzehn sein können. Es ließ sich schwer sagen. Ich hatte noch nie gesehen, dass sich ein Mensch so bewegte. Hätte mir jemand erzählt, sein Vater sei ein Wolf, hätte ich es geglaubt.
Er war ununterbrochen in Bewegung, so dass ich, erst nachdem er in die andere Ecke des Rings gedrängt worden war, bemerkte, dass ihm die linke Hand fehlte. Am Ende seines Unterarms, genau an der Stelle, wo das linke Handgelenk hätte sein sollen, endete sein Arm in einem abgerundeten Stumpf.
Als ihm jemand etwas ins Ohr flüsterte, starrte er mich mit einem brennenden Ausdruck in den Augen an. Hätte nicht einer der Piraten ihn an den Armen festgehalten, hätte er sich bestimmt sofort auf mich gestürzt. Doch sie drückten ihn auf einen Hocker und hielten ihn fest.
Ich spürte, wie sich mir von hinten Hände auf die Schultern pressten. Dass ich früher loslegte, wollten sie auch nicht.
Ripper Jones ging auf einen Plüschsessel mit hoher Lehne zu, der am Rande des Quadrats für ihn hingestellt worden war.
»Ihre Einsätze, meine Herren!«, rief er. »Gleich geht’s los!«
»Schlussquote ist 8 : 1!«, verkündete der Steuermannsmaat.
»Wie kommst’n darauf?«, rief jemand.
»Gutsy hat Hunger! Hab ihn heute zu füttern vergessen.«
Man hörte Lachen und Buhrufe. Ich versuchte es zu ignorieren. Ich musste nachdenken, die Angst abschütteln, die mein Hirn umklammerte, und mir irgendwas einfallen lassen, um am Leben zu bleiben. Ich ging nicht davon aus, dass ich diesen Jungen, oder was immer er war, umbringen konnte. Aber ich wollte auch nicht sterben.
Ich suchte nach einer dritten Möglichkeit. Die Piraten waren enger an uns herangerückt – es gab keinen freien Zentimeter mehr um das Viereck. Als ich hochsah, bemerkte ich in der Takelage ein Dutzend Männer, die wie Spinnen in einem Netz nach unten spähten.
Ich würde hier nicht rauskommen, ohne ihnen zu geben, wonach sie lechzten. Und das war Blut.
Ripper machte es sich in seinem Sessel gemütlich.
»Ihr kennt die Regeln, Jungs. Derjenige, der am Ende noch atmet, hat gewonnen.«
»Auf mein Kommando!«, rief der
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