Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
versuchte, war möglicherweise sogar noch gefährlicher. Ich hatte gerade einen kokosnussgroßen Stein vom Boden aufgehoben, da kam das Poltern näher.
Was es auch sein mochte, es rannte in meine Richtung.
Ganz in der Nähe ragte eine große Felszunge aus dem Boden, sie war fast zwei Meter hoch und ungefähr doppelt so breit und schien eine gerade Oberfläche zu haben. Da ich mich dort wahrscheinlich leichter würde verteidigen können, warf ich den Steinbrocken, den ich in der Hand hielt, hinauf und kletterte hinterher.
Gerade schwang ich die Beine über den Rand, da tauchte das verwundete Wildschwein auf. Ich drehte mich nach ihm um und es raste vorbei; aus einer großen Wunde in seiner Flanke floss tiefrotes Blut. Als es zwischen den Bäumen verschwand, sah ich, dass etwas in der Wunde steckte.
Es folgte derjenige, der es jagte – Guts, der barfuß durch das Dickicht stolperte, einen Stein in der Hand und mit gewohnt grimmigem Gesichtsausdruck. Er lief in den Wald hinein und folgte der Blutspur des Keilers.
Ich starrte ihm sprachlos hinterher. Dieser Kerl hatte wirklich vor nichts Angst. Das Wildschwein war gut fünfmal so groß wie er und er musste direkt auf ihm gesessen haben, um das Messer so hineinzurammen. Ich erwog einen Moment lang, herunterzuklettern und ihm zu folgen, vielleicht würde er das Fleisch mit mir teilen, wenn ich ihm half, das Schwein zu erlegen. Doch da er meine Hilfe vermutlich nicht zu schätzen wusste, sondern mich niederstechen würde, weil ich ihm sein Essen abspenstig machen wollte, blieb ich, wo ich war.
Die Geräusche der Jagd waren verstummt und ich wollte gerade meinen Felsen verlassen, als ich Guts überrascht aufschreien hörte, gefolgt von erneutem Rascheln im Unterholz. Sie kamen zurück.
Ich legte mich bäuchlings auf den Felsen und wartete.
Einen Moment später tauchte Guts wieder auf, diesmal rannte er um sein Leben. Er stolperte über eine Wurzel und schlug hart auf den Boden auf. Als er sich aufrappelte, waren seine Augen weit aufgerissen vor Angst und ich schrie ihm zu.
»HIER HOCH!«
Er zögerte nur eine Sekunde. Dann rannte er zu der Felszunge und versuchte hochzuklettern. Ich streckte ihm die Hand entgegen, doch er schlug sie weg. Was dumm war, denn schon einen Moment später kam er nicht weiter – er schaffte es zwar, sich mit seiner gesunden Hand an der Felskante festzuhalten, fand jedoch keinen Vorsprung, der breit genug gewesen wäre, dass er sich mit dem Stumpf seines Unterarms darauf hätte stützen können, und mit nur einer Hand hatte er nicht ausreichend Halt, um sich ganz hochzuziehen.
Der Keiler kam mit vollem Tempo zurückgerannt, rasend und blutrünstig. In seinem Hirn hatte es offenbar irgendwie geklickt, als wäre ihm klar geworden, dass es tatsächlich um sein Leben ging. Als er Guts an dem Felsen sah, stürmte der Keiler auf ihn zu.
Guts strampelte verzweifelt mit den Beinen gegen den Felsen, doch er fand keinen Halt. Ich langte über den Felsrand, packte seinen Arm kurz unterhalb des Stumpfes und zog ihn ein paar Zentimeter hoch, so dass der Kiefer des Keilers dort, wo eben noch Guts’ Fuß gewesen war, in die Luft schnappte.
Das Wildschwein knallte mit Wucht gegen den Felsen und landete auf der Flanke, in der noch immer Guts’ Messer steckte. Es stieß einen schrillen Schrei aus, rappelte sich jedoch – schwankend und blutend – schnell wieder auf.
Guts war jetzt halb auf dem Felsen und ich versuchte ihn höher zu ziehen, indem ich ihn unter den Achseln packte – da stellte sich der Keiler auf die Hinterbeine und griff erneut an.
Er streifte Guts’ Wade mit den Eckzähnen. Guts ächzte vor Schmerz und verlor den Halt, doch ich schaffte es, ihn festzuhalten, und er blieb oben, mit Mühe und Not.
Der Keiler setzte erneut an. Er erwischte Guts’ Hosenboden und fing an, heftig den Kopf hin und her zu werfen, um Guts von dem Felsen herunterzuzerren. Ich hoffte, die Hosen würden zerreißen, doch der Stoff hielt stand. Guts’ Körper wurde von einer Seite auf die andere geschleudert, und obwohl ich zog und er sich mit aller Kraft an mich klammerte, konnte ich spüren, wie er langsam abrutschte.
Als ich zur Seite blickte, sah ich weniger als eine Armlänge entfernt den Stein, den ich mit auf den Felsen genommen hatte. Ich packte ihn und schleuderte ihn an Guts vorbei direkt auf den Schädel des Wildschweins.
Der Stein traf den Keiler auf die Schnauze. Er taumelte zu Boden, und bis er sich wieder aufgerappelt hatte, war Guts
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