Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
nur einen Augenblick. »Was soll’s. Entscheidend ist, du musst weg von Morgenröte. Und zwar nicht über den Hafen, dort durchsuchen Daddys Soldaten vor dem Auslaufen jedes Schiff von oben bis unten.«
»Und was kannst du machen?«
»Ich hab ein Boot.«
»Du hast gerade gesagt, der Hafen –«
»Es liegt nicht im Hafen! Los, komm!«
Sie sprintete wieder los. Guts und ich sahen einander an.
»Diese Insel hat ringsrum über dreißig Meter hohe Klippen«, sagte er. »Außer dem Hafen gibt’s keinen Hafen.«
»Einen Blick ist es wert«, erwiderte ich und rannte Millicent hinterher.
Als er mit Fluchen fertig war, folgte auch Guts.
Der Trampelpfad endete nach ein paar Hundert Metern, irgendwo auf dem oberen Teil der Uferstraße. Wir wechselten auf die Klippenseite und folgten der Straße eine Weile, während Millicent die niedrige Baumreihe am Klippenrand musterte. Zweimal blieb sie stehen und ging wieder zurück, was Guts veranlasste, die Augen zu verdrehen und genervt zu schnauben.
Ich fragte sie, ob ich ihr irgendwie helfen könne.
»Ja«, erwiderte sie. »Sorg dafür, dass er die Klappe hält.«
»Hey, ich hab nix gesagt, du.«
»Küsst du deine Mutter mit diesem Mund?«
»Noch ein Wort über meine Mutter und ich schlitz dir –«
»Oh, gut! Hier ist es.«
Sie lief zwischen zwei hohen Pinien zu einer kahlen, unauffälligen Stelle oben auf der Klippe. Dann ging sie über ein paar große Felsbrocken zum Rand, der direkt ins Meer darunter abzufallen schien.
»Folgt mir«, sagte sie. Dann trat sie über den Klippenrand ins Leere.
Wir sahen verblüfft zu, wie sie Stück für Stück verschwand, bei jedem Schritt ungefähr fünfzehn Zentimeter.
»Kommt!«, rief sie, als ihr Kopf nicht mehr zu sehen war.
»Du zuerst«, sagte Guts.
Ich schluckte und trat bis zum Rand vor. Auf der dem Meer zugewandten Seite des Felsens – für das Auge so lange unsichtbar, bis man schon fast darauf stand – war eine schmale Treppe mit einem Dutzend Stufen in den Stein geschlagen. Millicent stand am Ende, lehnte sich leicht gegen die Felswand und lächelte zu mir hoch.
Als ich zu ihr hinunterstieg, nahm sie noch ein paar Stufen und verschwand unter einem Felsvorsprung. Am Ende des ersten Treppenabschnitts wurde eine weitere Treppe sichtbar. Millicent war wieder stehen geblieben und blickte zu mir zurück.
»Kommt er?«
Ich sah nach oben. Guts war auf den Stufen hinter mir.
»Geht weiter! Kann hier nich stehn bleiben.«
Ich ging auf Millicent zu.
»Egal, was du machst, schau nicht nach links«, sagte sie, als sie weiterging.
Ich blickte nach links – und sofort wurde mir schwindlig vor Angst, außer Luft gab es nichts zwischen der Treppenstufe und den scharfkantigen Felsen, die ein paar Hundert Meter unter mir aus dem Meer ragten.
Ich krallte mich mit beiden Händen im Gestein fest und presste meinen Kopf gegen die Felswand, um den Schwindel zu überwinden. Hinter mir gab Guts ein genervtes Grunzen von sich.
»Was hältst’n einfach an? Wär fast in dich reingerannt!«
»Tut mir leid!« Meine Stimme klang, als würde mich jemand strangulieren.
»Du hast nach links geschaut, stimmt’s?«, rief Millicent fröhlich. »Lass das lieber.«
Wir kletterten vielleicht zwei Minuten die Treppe hinunter, doch mir kam es wie eine Stunde vor. Schließlich führte sie ungefähr sieben Meter über der Wasseroberfläche abrupt in den Felsen hinein und verschwand in einem niedrigen Felsbogen, unter dem wir uns nur in der Hocke hindurchquetschen konnten.
Drinnen war es stockfinster und zehn Grad kälter.
»Gib mir den Rucksack«, hörte ich Millicent von irgendwo vor mir sagen.
Ich hielt ihr den Rucksack mit dem Essen und dem Wasser entgegen, den sie für uns gepackt hatte und den ich seit Verlassen der Wolkenvilla geschleppt hatte.
Sie nahm ihn und ein paar Augenblicke später entzündete sie ein Streichholz, das die nähere Umgebung erleuchtete.
Wir standen auf einer Plattform, die in die Wand einer engen Höhle mit hoher Decke geschlagen war. Auf dem Wasser unter uns schaukelte ein kleines einmastiges Boot, das an in den Felsen geschlagenen Eisenhaken festgebunden war.
»Einen Moment noch. Ich suche die Laterne«, sagte Millicent. Sie war schon halb die Treppe zum Boot hinunter, da erlosch das Streichholz. Ich erwartete, dass sie sofort das nächste anzünden würde, doch sie kannte die Umgebung so gut, dass sie mit dem nächsten bereits die Laterne ansteckte, die sie irgendwo auf dem Boot gefunden hatte.
Sie
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