Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
nie im Leben befohlen hätte, so etwas zu tun. Irgendwie hat es ein schreckliches Missverständnis gegeben. Und das werde ich aufklären. Ich werde es in Ordnung bringen, versprochen. Ich werde dafür sorgen, dass zwischen Daddy und dir wieder alles gut wird.«
Jede weitere Diskussion war sinnlos. Wie sie gesagt hatte, wir würden einander nicht überzeugen. Also wechselte ich das Thema.
»Warum glaubst du nicht, dass es einen Schatz auf Dreckswetter gibt?«
»Weil Daddy es mir sonst erzählt hätte. Und es kommt nicht in der Legende vor.«
»Wie lautet denn die Legende?«
»Von den Okalu?«
»Was sind die Okalu?«
»Ernsthaft? Hast du noch nie von ihnen gehört? Trotz der ganzen Bücher, die du gelesen hast?«
»Darüber hab ich kein einziges gelesen.«
Sie seufzte. »Gut. Wo soll ich anfangen …? Vor hundert Jahren, als die Cartagier das erste Mal in die Neuen Länder kamen, gab es einen Eingeborenenstamm, der das ganze Meer beherrschte. Sie nannten sich Okalu: das Volk der Sonne.
Für Wilde waren sie ziemlich hoch entwickelt. Sie hatten Städte und eine Schrift und vermutlich konnten sie Dinge, die wir uns nicht mal vorstellen können. Zum Beispiel Gegenstände durch bloßes Hinschauen anzünden. Einige Leute glauben, dass ein Trick dabei im Spiel war, irgendeine Technologie oder etwas, wovon wir nichts wissen.
Andere jedoch denken – und die Okalu sagten es auch selbst –, dass sie über magische Kräfte verfügten. Die ihnen von der Sonne verliehen wurden; in ihren Augen war sie etwas Lebendiges, eine Gottheit im Himmel, die sie Ka nannten. Jeden Morgen verbeugte sich der ganze Stamm bei Sonnenaufgang, um sie anzubeten und ihr zu danken. Und jeden Abend bei Sonnenuntergang taten sie dasselbe und baten die Sonne, zurückzukehren und die Kräfte der Okalu für einen weiteren Tag zu erneuern.
Sie hatten zwei Haupttempel. Einen auf dem Festland, den sie das ganze Jahr aufsuchten, und einen auf Morgenröte, auf dem Königsberg, zu dem sie nur einmal im Jahr pilgerten. Ich bin mal dort gewesen. Heute ist der Tempel fast vollständig zerstört, aber man kann sich noch vorstellen, wie prachtvoll er damals gewesen sein muss.
Morgenröte war unbewohnt. Es war heilige Erde, außer dem Tempel gab es dort nichts. Und einmal im Jahr, zur Sommersonnenwende, kam der ganze Stamm vom Festland über die Blauen Meere dorthin und sie feierten eine große Zeremonie, die Sonnenhochzeit genannt wurde.
Sie wählten ein Mädchen des Stammes aus – die Prinzessin der Morgenröte –, schmückten sie mit Gold und Juwelen und boten sie bei Sonnenaufgang Ka als Frau dar. Und angeblich erhob sie sich mit all den Juwelen behängt in den Himmel. Und kehrte nie wieder zurück.«
Millicent lächelte. »Als ich klein war, habe ich gespielt, ich wäre die Prinzessin der Morgenröte. Und würde im Himmel leben und über alle herrschen.«
Es war nicht weiter schwierig, sich das vorzustellen.
»Im Tausch für seine Braut gewährte Ka dem Stammeshäuptling, dem Feuerkönig, ein weiteres Jahr seine Kräfte und überließ ihm einen geweihten Gegenstand: die Faust des Ka, eine Art« – sie deutete auf die Knöchel ihrer Hand – »riesiger Ring oder Handschuh oder so was. Es ist nicht klar, was es genau war. Doch wenn der Feuerkönig den Gegenstand schwang, verfügte er über alle Kräfte Kas: zu verbrennen, zu töten, sogar zu heilen.
Dann kamen die Cartagier. Am Anfang nur ein paar Forschungsreisende, doch irgendwann schickten sie eine ganze Flotte, um den Kontinent zu erobern. Sie hatten Gewehre und Pferde, und da die Eingeborenen weder das eine noch das andere je gesehen hatten, hielten sie die Neuankömmlinge für Donnergötter, die gekommen waren, um das Volk der Sonne zu vernichten.
Zu Anfang gewannen die Cartagier jede Schlacht und schafften es bis vor die Tore der wichtigsten Stadt der Okalu, wo der Tempel des Sonnenuntergangs stand. Da hob der Feuerkönig –Hutmatozal – die Faust des Ka, und so starb die Mehrzahl der Cartagier auf der Stelle, heißt es. Nur wer einwilligte, fortan Ka zu preisen, überlebte.
Die Cartagier, die mit dem Leben davongekommen waren, zogen sich auf ihre Schiffe zurück und wollten gerade die Segel setzen, da näherte sich ihnen ein anderer Stamm – die Moku, die seit Ewigkeiten von den Okalu beherrscht wurden und diese hassten – und bot seine Hilfe an. Sie erzählten den Cartagiern von der alljährlichen Wallfahrt zur Sonnenhochzeit, die kurz darauf stattfinden würde.
Und so
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