Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
auf das Schiff, das nun nahe genug war, dass man die geschnitzte Galionsfigur auf dem Bugspriet erkennen konnte. Auf den Blauen Meeren sind die Galionsfiguren bei fast jedem Schiff gleich – eine geflügelte Göttin der Meere, die der Besatzung Schutz gewähren soll. Es ist ein so weit verbreiteter Aberglaube und Seeleute nehmen ihn so ernst, dass ich von Besatzungen gehört habe, die sich geweigert haben, auf Schiffen ohne diese Figur zu segeln, oder in den Hafen zurückgekehrt sind, nur um die zerbrochene Galionsgöttin zu reparieren.
Diese Galionsfigur war keine Göttin. Sondern ein Skelett, fratzenhaft und entstellt, der Kiefer des Totenschädels zu einem entsetzlichen Schrei aufgerissen.
Auf den Blauen Meeren gab es nur ein Schiff mit einer solchen Galionsfigur, und einen Kapitän und eine Mannschaft, die dreist genug waren, sich nicht um den Aberglauben zu scheren.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Guts war schneller als ich.
»Du dummes Stück!«, brüllte er Millicent an. »Das ist Burn Healy!«
Die Grift , Burn Healys Flaggschiff, war unverwechselbar. Und zwar nicht nur wegen des Skeletts als Galionsfigur, sondern weil niemand sonst auf den Blauen Meeren diese Art schnittige, in der Mitte tiefgelegte Galeone befehligte. Nur die cartagische Marine verfügte über das Wissen und das Geld, ein solches Boot zu bauen, und nur Burn Healy hatte den Mut und die Stärke, es ihnen abzunehmen.
Jeder Fluchtversuch war sinnlos – nicht nur war das Schiff fast direkt vor uns, ich wusste auch, dass die einzigen Opfer, die ein Zusammentreffen mit Healy überlebten, diejenigen waren, die sich auf der Stelle ergaben und alles, was sie besaßen, als Beute anboten.
Am meisten Angst machte mir in jenem Augenblick, dass das einzig Wertvolle, was wir an Bord hatten, Millicent war.
Als ich mich zu ihr drehte – während mein Hirn in Windeseile alle Möglichkeiten durchging, wo auf dem kleinen Segelboot wir sie vor einer Besatzung verrohter Männer verstecken könnten, die ihr mit absoluter Sicherheit das Schrecklichste antun würden –, traute ich meinen Augen nicht. Sie lächelte.
Es war mehr als ein Lächeln. Sie wirkte aufgeregt.
»Burn Healy? Das ist genial! Er arbeitet für meinen Vater!«
Wie immer, wenn mein Hirn eine Information erhält, mit der es nicht klarkommt, schaltete es sich komplett ab.
Guts reagierte schneller. »So ein Quatsch! Healy arbeitet für niemanden!«
»Mein Vater ist ja wohl kaum niemand. Und Healy ist ihm etwas schuldig. Er sollte der Irdischen Freude sicheres Geleit gewähren und hat es komplett vermasselt! Daddy wollte sich gerade erst gestern Nacht mit ihm treffen, und da er sehr verärgert war, bevor er gegangen ist, hat sich Healy vermutlich ganz schön was anhören müssen und wird alles tun, um wieder Gnade vor Daddys Augen zu finden. Ich brauche ihm nur zu sagen, wer ich bin, und er wird sich überschlagen –«
»MILLICENT!«, brüllte ich, als mein Hirn wieder angesprungen war. Es war so vieles falsch an dem, was sie sagte, dass jeder Satz kleine Explosionen in meinem Kopf auslöste. Ich musste sie zum Schweigen bringen, damit sich der Qualm lichten konnte.
»Um Himmels willen, Egg, schrei doch nicht so. Ich steh direkt neben dir.«
»Dein Spatzenhirn tickt wohl nich ganz richtig! Die wer’n dich in Stücke reißen!«, bellte Guts sie an.
Millicent seufzte und verdrehte die Augen. »Ich glaube nicht, dass du einen blassen Schimmer davon hast, wie die Welt funktioniert.«
»Aber ich weiß, wie’s läuft mit ’ner Piratenmannschaft und ’nem hübschen Mädchen.«
Millicent klappte die Kinnlade runter. Sie sah echt schockiert aus. »Wie bitte!? Niemand wird mir auch nur ein Haar –«
KLONNNGG! Ein Enterhaken landete auf dem Vorderdeck und ließ das Holz splittern. Von dem Haken wand sich eine Strickleiter hoch an Deck der Grift .
»Schönen guten Abend«, rief eine spöttische Stimme von irgendwo über uns. »Warum kommt ihr nich hochgeklettert und sagt Guten Tag?«
Millicent ging auf die Strickleiter zu. »Ihr werdet schon –«
Ich packte sie am Arm und hielt sie fest. Mittlerweile hatte sich mein Hirn so weit beruhigt, dass mir klar vor Augen stand, wovor ich sie warnen musste.
»Das sind böse Männer«, sagte ich mit eindringlicher Stimme. »Sie tun schreckliche Dinge. Und falls sie wirklich für deinen Vater arbeiten, werden sie mich umbringen.«
»Nicht, wenn ich ihnen befehle –«
»Du bist nicht dein Vater! Du hast keine Kontrolle
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