Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Grift – in sich gekehrt, verschüchtert hing sie ständig an meinem Arm und ließ mich nie weit weg.
Das war doch wirklich merkwürdig: Nach all meinen Heldenfantasien – dass ich sie vor Piraten retten oder Gebäude niederbrennen könnte oder ihren hinterhältigen Vater töten – hatte ich sie tatsächlich gerettet, und sogar vor richtigen Piraten. Oder hatte zumindest dabei geholfen, sie zu retten, auch wenn ich bloß sehr laut geschrien hatte und um ein Haar umgebracht worden wäre.
Und sie verhielt sich, wie ich es mir erträumt hatte – sanft und dankbar schmiegte sie sich wie eine verfolgte Unschuld an mich.
Und ganz ehrlich: Der Teil mit dem Anschmiegen war schon ziemlich toll, auch wenn sie als Junge verkleidet war, und zwar als ein leicht müffelnder, und Guts dabei war und wir mitten unter Piraten waren.
Doch die meiste Zeit machte mir ihre Anschmiegsamkeit Angst und beunruhigte mich.
Schließlich war Millicent immer selbstsicher und furchtlos und allwissend gewesen, und auch wenn das manchmal richtig nerven konnte – als sie zum Beispiel so getan hatte, als wäre die Sonne an der falschen Stelle aufgegangen –, hatte es auch etwas Tröstliches. Sie wirkte unbesiegbar, als könne ihr nichts etwas anhaben. Und mit ihr zusammen zu sein, fühlte sich an, als würde man hinter einer dieser Galionsfiguren hersegeln, die die Göttin der Meere darstellten. Solange ich in ihrer Nähe bliebe, wäre auch ich unbesiegbar.
Ich hatte die letzten wer weiß wie vielen Tage damit zugebracht, ständig vor Angst durchzudrehen, und als sie dann mit Guts und mir ins Boot geklettert war – arrogant genug, um im Nachthemd über ein Meer zu segeln, das von Piraten wimmelte –, dachte ein Teil von mir: Dem Himmel sei Dank. Jetzt wird alles gut. Wenigstens für eine Weile hatte sie mir die Angst genommen.
Nun war für uns beide klar, dass sie nicht unbesiegbar war. Vielleicht würde trotzdem alles gut werden, vielleicht aber auch nicht.
Was bedeutete, dass ich meine Angst nicht abschütteln konnte. Egal, was passierte, ich würde sie mit mir herumschleppen.
Irgendwann gegen Mittag legte sich der Wind, die Segel der Grift hingen schlaff herunter und schwüle, stickige Luft breitete sich wie eine dicke, heiße Decke über unsere Köpfe.
»Agh! Was ist das denn? Die Luft hat sich in Suppe verwandelt!« Millicent zupfte an ihren Kleidern herum, die wie bei allen anderen allmählich schweißtriefend an ihrem Körper klebten.
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Es war unangenehm, aber auf so vertraute Weise, dass ich mich auf der Stelle zu Hause fühlte.
»Was glaubst du, warum die Insel Dreckswetter heißt?«
»Wusste nicht, dass es so wörtlich gemeint ist.«
»Da ist sie«, rief Guts und deutete zum Horizont.
Ich hätte nie geglaubt, dass ich mich so freuen würde, diese halb versunkene, verfaulende Insel aus dem Dunst aufsteigen zu sehen. Doch ich war mehr als froh. Ich war endlich wieder auf dem Weg nach Hause.
Das einzige Problem war, dass ich nicht wusste, was oder wen ich dort vorfinden würde. War Pembroke als Erster dort angekommen? Hatte er andere geschickt? Hatten sie den Schatz bereits gefunden?
Gab es überhaupt einen Schatz?
Da Ebbe herrschte, warf die Grift vor der Hafeneinfahrt Anker, um zum Einlaufen auf die Flut zu warten. Wir drei wollten nicht auf dem Piratenschiff bleiben, kletterten wieder in das kleine Segelboot und zogen den Enterhaken aus dem Deck. Gerade als wir losrudern wollten, tauchte Burn Healy auf und rief uns von der Grift aus etwas zu.
»Wenn ihr das Boot vertäut, sucht euch einen der Rumtreiber auf dem Kai und sagt ihm, das sei mein Boot und er solle darauf aufpassen. Ansonsten stehlen sie es, bevor ihr nur zehn Meter vom Kai runter seid. Und bleibt nicht zu lange in der Stadt. Sie werden schnell rausfinden, dass sie kein Junge ist.«
Als wir auf die Küste zuruderten, schüttelte Guts erneut verwundert den Kopf.
»BurnHealy. Vielleicht ist er gutmütig geworden.«
»Er hat vor unseren Augen einen Mann umgebracht.«
»Stimmt.«
»Daddy wird ihn garantiert nie wieder anheuern«, erklärte Millicent.
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Er drückt sich vor der Arbeit! Er hat die Irdische Freude nicht geschützt. Und er hat dich nicht umgebracht, wie ihm aufgetragen wurde.«
Sie grinste mich an. Ich lächelte zurück, nicht, weil es mir gefiel, sondern weil es die Art bösartiger Witz war, der zur furchtlosen Millicent passte, und ich war froh, sie
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