Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Kerzen erhellt, die auf dem Boden und niedrigen Tischen standen. Sonst war es leer bis auf ein hochbeiniges Bett in der Mitte, auf dem eine verhüllte Gestalt lag. Ilkar drehte sich stirnrunzelnd um, wurde aber weiter hineingeschoben. Er trat näher ans Bett. Der süße Duft stieg ihm in den Kopf. Er zog die Decke zurück.
Auf dem Bett lag ein Elf, der ungefähr in seinem Alter
war, auch wenn man es kaum genau sagen konnte. Das Gesicht war faltig, als sei alle Feuchtigkeit herausgezogen worden, aus der Nase rann ein Blutfaden, ein zweiter aus dem Mundwinkel. Der Tod hatte keine Entspannung gebracht, als hätten ihn die Schmerzen, die er litt, während er den Kampf um sein Leben verlor, nicht einmal nach dem Tod losgelassen. Ilkar kannte ihn.
»Wir konnten nichts tun«, erklärte Kild’aar, als Ilkar das Tuch wieder über ihn gedeckt hatte. »Er war schon so gut wie tot, als er hierher gebracht wurde. Nichts, was wir getan haben, weder mit Magie noch mit Kräutern, hat ihm irgendetwas genützt, abgesehen davon, dass wir seine Schmerzen ein wenig lindern konnten. Jeder weiß, dass er unter großen Qualen gestorben ist, und jeder weiß, wie hilflos wir sind. Alle, die erkrankt sind, wissen, wie es für sie ausgehen wird, wenn wir keinen Weg finden, sie zu retten. Deshalb haben wir so große Angst. Wer wird der Nächste sein?«
»Dann lasst Erienne helfen«, drängte Ilkar sie. »Sie ist die beste Magier-Heilerin, die ich je gesehen habe. Sie hat auch mir schon einmal das Leben gerettet. Lass sie ihn untersuchen und sehen, ob sie etwas herausfindet. Bitte, Kild’aar, vertrau mir.«
Kild’aar zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Komm.« Sie führte Ilkar ins Nachbarzimmer. Es war ähnlich kahl, doch hier waren die Läden geöffnet, um das Tageslicht hereinzulassen. Auf einem Tisch unterm Fenster stand eine Wasserschale, über deren Rand Tücher hingen. An einer Wand befand sich ein Einzelbett, und darauf lag ein Elf auf dem Bauch, mit dem Kopf zu einer Seite gedreht. Ein Laken bedeckte ihn bis zur Hüfte, und sein Rücken war größtenteils von Bandagen bedeckt, die auf der linken Schulter besonders dick waren.
»Bei den Göttern«, sagte Ilkar. Er stürzte zum Bett und kniete nieder, um dem Mann die Haare aus dem Gesicht zu streichen. »Nicht auch er.«
»Nein«, sagte Kild’aar. »Sein Fieber wurde durch eine infizierte Wunde ausgelöst, es ist inzwischen aber zurückgegangen. Er wird überleben. Vorläufig jedenfalls.«
Ilkar war erleichtert und atmete schwer aus. Sein Atem strich übers Gesicht des liegenden Elfen.
»Rebraal«, flüsterte er, »kannst du mich hören?«
Der Elf schlug flatternd die Augen auf, kniff sie im Licht zusammen und sah sich um. Er runzelte die Stirn.
»Bist du es wirklich?« Es war kaum mehr als ein Krächzen.
»Ja, ich bin es. Was ist mit dir geschehen?«
»Du bist es nicht. Ich habe Fieber. Du bist nur ein Gespenst.« Er schien mit sich selbst zu sprechen, seine Worte waren kaum zu verstehen.
»Nein. Das Fieber ist gewichen. Kild’aar sagt, du erholst dich bereits. Ich bin es wirklich, und ich knie vor dir.« Ilkar lächelte.
Rebraals Gesicht verdüsterte sich. »Ob Gespenst oder echt, eines will ich dir sagen. Du kommst zu spät. Du kommst ein ganzes Jahrhundert zu spät. Wo warst du, als die Fremden kamen und Aryndeneth eingenommen haben? Wo warst du, als ich angeschossen wurde? Wir hätten dich gebraucht. Du hast versprochen zurückzukehren. Es war deine Bestimmung, wie es meine war. Verschwinde hier. Ich kenne dich nicht.«
»Rebraal, ich verstehe deinen Zorn. Doch meine Bestimmung hat sich verändert. Es gab andere Dinge, die ich tun musste. Aber das hat nicht die Tatsache aufgehoben, dass ich dein Bruder bin.«
»Du hast mich verraten. Du hast die Al-Arynaar verraten.
Du bist nicht mein Bruder.« Er wandte sich ab. »Kehre zu deiner anderen Bestimmung zurück.«
Ilkar legte Rebraal eine Hand auf den Rücken.
»Bitte, Rebraal. Ich kann dir helfen. Ich habe Freunde mitgebracht. Wir erobern den Tempel zurück.«
»Ich will nichts von dem, was du geben kannst. Wir brauchen keine Hilfe. Geh weg.«
Ilkar spürte Kild’aars Hand auf der Schulter. Er schaute auf. Seine kurze Freude über das Wiedersehen mit seinem Bruder war verflogen. Er hatte einen Kloß im Hals und schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Eine Flut von Gefühlen brach über ihn herein. Seine Eltern waren tot, wie er es erwartet hatte, doch darüber war er nicht sehr
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