Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
einzulassen.«
Yron wusste nicht, wie lange sie schon gerannt waren, als sie erschöpft am Wegesrand zusammenbrachen. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, und ihre Lungen pumpten gequält und unter Schmerzen in der Brust. Er war der Ansicht, dass sie mindestens vorübergehend ein oder
zwei Stunden herausgeholt hatten. Doch er wusste auch, dass sie nicht anhalten durften. Also gingen sie etwas langsamer weiter, sobald sie wieder bei Atem waren. Er führte Ben-Foran nach Osten, fort vom Lager und in Richtung eines Zuflusses des Shorth, dem sie zum Hauptstrom und dann bis zur Mündung folgen konnten.
Als sie weitergingen, ermahnte er Ben, sich leise zu bewegen, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen und auf alle Anzeichen dafür zu achten, dass sie verfolgt wurden. Ihm war bewusst, dass es im Grunde sinnlose Übungen waren, doch auf diese Weise war Ben beschäftigt und dachte nicht über das nach, was im Tempel geschehen war.
Er fragte sich, ob Ben glaubte, sie hätten die Gefahr hinter sich gelassen, und ob der Junge an die Möglichkeit dachte, dass sie jederzeit den Weg anderer Krieger kreuzen konnten. Yron musste jedenfalls ständig daran denken, während sie durch den dichten Wald stapften, sich unter Ästen duckten und großen, hängenden Blättern auswichen, um sich, so gut sie konnten, einen Weg zu suchen. Wenn die Wolken sich verzogen, konnten sie sich grob nach der Sonne orientieren, die über dem dichten Blätterdach stand.
Yron betrachtete seine Hände und war dankbar, dass er Ben angewiesen hatte, ebenfalls die Handschuhe anzuziehen. Das Leder war abgegriffen und rissig von Dornen und Baumrinde und die Götter mochten wissen was noch allem. Seinen Hosen war es nicht besser ergangen, und er war ziemlich sicher, dass einige Dornen durch den Stoff gedrungen waren und seine Haut zerstochen hatten. Die leichte Lederjacke hatte seinen Oberkörper und die Arme recht gut geschützt, doch sein Gesicht hatte ein halbes Dutzend Kratzer, die er spüren konnte, und zweifellos
noch viele weitere, die er nicht bemerkte. Das warf ein Problem auf. Eigentlich sogar zwei Probleme.
Als sie das nächste Mal rasteten und auf einem hohlen Baumstamm saßen, den Yron vorher auf giftige Bewohner untersucht hatte, brachte er sie zur Sprache.
»Ben, seht mich an«, sagte er. »Und jetzt beschreibt jede Verletzung, die Ihr sehen könnt.«
»Hä?«
»Ich werde das Gleiche bei Euch tun. Wir müssen Infektionen vermeiden, und wir dürfen keine Blutspuren hinterlassen.«
»Hä?«
»Übt Ihr den Paarungsruf irgendeines Primaten, Ben?«, gab Yron zurück. »Und überhaupt, es heißt ›Hä, Hauptmann?‹«
»Verzeihung, Sir, aber sollten wir nicht einfach nur rasten und möglichst schnell weitergehen? Ihr habt nur ein paar Kratzer von Dornen. Nichts, womit man sich aufhalten müsste.«
Yron räusperte sich, stand auf und ging zu einer Rubiacpflanze, die er gerade bemerkt hatte. Er pflückte die Früchte. »Ben, nehmt dies als eine weitere Lehrstunde. Eine Lehrstunde, die keine Zeitverschwendung ist, weil wir beide überleben wollen. Ihr müsst immer planen, wie Ihr überleben könnt. In einer Umgebung wie dieser ist die Planung lebenswichtig. Und jetzt sagt mir, was wir tun werden, wenn wir den Fluss erreicht haben.«
»Ihr sagtet, wir werden hineinspringen«, erwiderte Ben-Foran unsicher. Er schauderte. »So klang es jedenfalls. Damit die Panther unsere Fährte verlieren.«
»Genau. Und das ist schon zu normalen Zeiten gefährlich. Aber dies sind keine normalen Begleitumstände. Ich zähle acht Kratzer in Eurem Gesicht, die geblutet haben.
Acht Kratzer, die, sobald Ihr in den Fluss springt, alle durchs Wasser verbreiteten Krankheiten in Euren Körper eindringen lassen werden, die Ihr Euch nur vorstellen könnt, und dazu noch zwanzig weitere, an die Ihr nicht denkt. Außerdem werdet Ihr damit die mehr als unwillkommene Aufmerksamkeit der Piranhas erregen. Und glaubt mir, das sind keine niedlichen kleinen Fische, in deren Revier Ihr mit einer blutenden Wunde eindringen wollt.«
»Oh, ich verstehe.«
»Das freut mich«, sagte Yron. »Wir nehmen uns eine halbe Stunde Zeit. Wir untersuchen unsere Schnittwunden, pflücken die Früchte, machen Umschläge und wenden sie an. Alles klar? Gut.«
»Sir?«
»Ja, Ben?«
»Werden wir überleben?«
»Was meint Ihr, haben wir bisher Glück gehabt, Ben?«
Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »In der letzten Zeit auf jeden Fall.«
»So sehe ich es auch. Ich denke also, wir
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