Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
bekümmert. Aber Rebraal. Rebraal war nur wenig älter als er selbst, und Ilkars Liebe zu seinem Helden war nie geschwunden, auch wenn er oft lange Zeit nicht an seinen Bruder gedacht hatte. Jetzt hatte sein Bruder ihn verstoßen. Er stand auf und verließ das Haus.
»Was hast du erwartet?«, fragte Kild’aar ihn. »Er dachte, du hättest ihn im Stich gelassen. Du hättest dich den Al-Arynaar anschließen sollen. Deshalb bist du zur Ausbildung nach Julatsa gegangen.«
Ilkar fuhr zu ihr herum. »Nein, nicht deshalb!«, rief er. Dann beherrschte er sich. »Das habt ihr alle angenommen. Du, er, meine Eltern. Ihr habt mich nie gefragt, was ich dachte, ihr habt nie berücksichtigt, was ich wirklich wollte. Ich wollte niemals Rebraal und meinem Vater zu den Al-Arynaar folgen. Ich habe sie für ihr Opfer bewundert, aber ich wollte ihnen nicht nacheifern.«
Kild’aar runzelte die Stirn. »Warum hast du dann die Ausbildung gemacht?«
Ilkar hätte fast gelacht. »Weil ich ein Magier werden
wollte. Weil ich diese Berufung so stark in mir gespürt habe, dass ich sie nicht verleugnen konnte. Du hast keine Ahnung, wie erleichtert ich war, als ich von hier fortging, und wie begeistert ich an jedem Tag der Ausbildung war. Ich wusste, was ihr alle empfinden würdet, als ich nicht zurückgekehrt bin, doch ich konnte nicht herkommen und es erklären, weil ihr mich nicht wieder weggelassen hättet.«
»Hast du denn nicht an das geglaubt, was die Al-Arynaar repräsentieren?«
»Aber natürlich habe ich daran geglaubt«, sagte Ilkar. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar und suchte nach den richtigen Worten, um es ihr begreiflich zu machen. »Aber ich habe nie den Drang verspürt, mein Leben mit der Verteidigung von etwas zu verbringen, das meiner Meinung nach niemals angegriffen werden würde. Ich weiß, wie töricht das jetzt klingt, aber ich wollte mehr als das.«
Kild’aar schüttelte den Kopf. »Wie kann es mehr geben als die Ehre, deinen Glauben zu verteidigen?«
»Es war nicht das, was ich wollte. Kannst du das nicht verstehen? Warum kann Rebraal es nicht verstehen?«
Ilkar hatte Lust, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen, oder wenigstens das letzte Jahrzehnt. Doch sie hätte nicht hören wollen, wie er zusammen mit dem Raben Dawnthief gesucht und die Wytchlords aufgehalten hatte, wie sie den Himmelsriss verschlossen und dafür gesorgt hatten, dass Balaia nicht von Drachen heimgesucht wurde. Beides hatte mehr dazu beigetragen, den Glauben der Elfen zu schützen, als die Bewachung von Aryndeneth. Das Problem war, dass die Elfen hier zu isoliert lebten. Für Kild’aar und für so viele andere Dorfbewohner im Regenwald waren die Ereignisse auf Balaia völlig unwichtig.
Das einzig Wichtige am Nordkontinent war für sie Julatsa und die Ausbildung, die ein Elf dort bekommen konnte, wenn er den Ruf der Magie in sich verspürte. Dennoch hätten die meisten Dorfbewohner die Kunde vom Untergang des Kollegs mit einem Achselzucken hingenommen, und die Elfen, die dort ausgeharrt hatten, hätten sie als Dummköpfe bezeichnet. Es war eine Paradoxie, mit der die Ältesten der Elfen jedoch bequem leben konnten.
»Auf Balaia wurde dir der Kopf verdreht, bis du die Wahrheit nicht mehr siehst«, sagte sie. »Und Rebraal wird dir zumindest teilweise die Schuld am Verlust des Tempels geben.«
»Dann überzeuge ihn, dass er mich helfen lässt, es wieder in Ordnung zu bringen«, sagte Ilkar. Er deutete auf das Haus seines Vaters. »Du weißt es nicht, aber in diesem Haus sind die fähigsten Krieger und Magier von ganz Balaia. Sie sind der Rabe, und sie können etwas bewegen.«
»Wir haben vom Raben gehört«, entgegnete Kild’aar wenig beeindruckt. »Unsere Magier, die zurückgekehrt sind, wie sie es versprochen hatten, erwähnten euch. Wir brauchen keine Söldner. Wir brauchen Gläubige. Rebraal hat Recht, du solltest gehen.«
Ilkars Wangen verfärbten sich. Ihm war sehr bewusst, dass er nach vielen Jahrzehnten in Balaia eine hellere Haut bekommen hatte, äußeres Zeichen dafür, dass er sich von seinen eigenen Wurzeln entfernt hatte. Es war sinnlos, weiter mit Kild’aar zu streiten. In gewisser Weise konnte er sogar verstehen, dass sie sich hintergangen fühlte, doch er begriff einfach nicht, warum sie so störrisch sein ernst gemeintes Hilfsangebot ausschlug.
»Ich will dir sagen, was geschehen wird«, erwiderte Ilkar
und machte endlich seiner Frustration Luft. »Wir sind hier, weil wir Magier nach Julatsa holen
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