Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
liebe dich, weil du sie vollbracht hast. Aber heute ist heute, und ich will dich nicht dauernd meckern hören, wie schwer das alles für dich ist.«
»Sei nicht so herablassend, Hirad.«
»Konntest du denn nichts Besseres mit deiner Zeit anfangen? Außer Sonnenbaden und Gärtnern?«
»Hört auf, hört auf!«, rief Erienne. Sie sprang auf und presste die Hände an den Kopf. »Wie könnt ihr es wagen, das Grab meines Kindes in euren kindischen Streit hineinzuziehen? Ich bin mitgekommen, weil ich zu vergessen versuchen wollte, versteht ihr das nicht? Nicht um des Raben willen, sondern um meinetwillen. Wann lasst ihr mich endlich damit anfangen?«
Sie drehte sich um und rannte aus dem Lager. Denser wollte ihr folgen, doch bevor sie fünf Schritte getan hatte, prallte sie gegen den riesigen Thraun, der ein großes Bündel Holz fallen ließ und ihr einen Arm um die Hüfte legte.
»Lass mich los, Thraun.«
Der Gestaltwandler schüttelte nur den Kopf. Er strich ihr mit einer Hand über die Wange und sah ihr tief in die Augen.
»Nicht vergessen, Erienne«, sagte er mit rauer, heiserer und krächzender Stimme. »Trauern. Leben. Nicht vergessen.«
Sechzehntes Kapitel
Der Fisch war ausgezeichnet, doch der Rabe hatte das üppige Mahl kaum zu würdigen gewusst, weil alle viel zu verblüfft über Thrauns Worte waren, die ersten seit mehr als fünf Jahren. Woher sie gekommen waren und welche Barriere in seinem Bewusstsein gefallen war, dass er sie auf einmal aussprechen konnte, würden sie vermutlich nie erfahren, doch er hatte gesprochen, und das war genug.
In Wirklichkeit hatte er sogar noch viel mehr getan. Er hatte Eriennes Gefühle verstanden und den ganzen albernen Streit beigelegt. Jetzt schwatzten Denser und Hirad miteinander, als wäre nichts geschehen, und Ilkar beobachtete sie kopfschüttelnd von der anderen Seite des Feuers aus.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte der Unbekannte, der neben ihm saß.
Ilkar hatte gesehen, wie er die Ameisen beobachtet hatte, die über die Gräten vor seinen Füßen herfielen, alles Brauchbare zerlegten und wegtrugen. So war es im Regenwald. Alles diente irgendeinem Zweck.
»Ich verstehe die beiden nicht. Wahrscheinlich werde ich sie nie verstehen«, sagte Ilkar. »Was ist nur los mit ihnen? Setze sie an ein Lagerfeuer, und sie geraten sich wegen irgendwelcher Nichtigkeiten in die Haare.«
»Allerdings war es gar nicht so unwichtig«, entgegnete der Unbekannte. »Hirad hat Recht.«
»Aber er kann sich nicht gut ausdrücken, was?«
»Und Denser sollte ihn inzwischen gut genug kennen und nicht darauf hereinfallen. Du solltest mal mit ihm reden.«
»Glaubst du denn, er ist mit dem Herzen dabei?«, fragte Ilkar.
»Wer, Denser?«
»Wer sonst?«
Der Unbekannte zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Ich glaube, er hat nur versucht, Erienne in Schutz zu nehmen. Wenn wir wieder in Balaia sind und er das Gefühl hat, dass er etwas Sinnvolles tun kann, wird es ihm besser gehen.«
Sie schwiegen und beobachteten Thraun und Darrick. Seit seinen ersten paar Worten hatte Thraun nicht mehr viel gesagt, und es schien, als sei die alte Entrücktheit zurückgekehrt. Doch jetzt bemühten sie sich alle abwechselnd um ihn, und im Augenblick versuchte Darrick, ihn zu bewegen, ein Schwert zu tragen. Es schien so, als ginge es dieses Mal erheblich leichter.
»Was denkst du, was es ausgelöst hat?«, fragte Ilkar.
»Erienne«, sagte der Unbekannte. »Oder genauer, das, was sie gesagt hat. Seine Worte sind einer tiefen Berührung entsprungen.«
»Ich staune darüber, dass er überhaupt noch weiß, was mit Will geschehen ist.«
»Wie ich schon sagte, es hat ihn tief berührt. Vielleicht
sollten wir gar nicht so überrascht sein, dass ihm aus der Zeit, bevor er fünf Jahre als Wolf gelebt hatte, doch noch einiges geblieben ist.«
»Vielleicht nicht.« Ilkar streckte die Beine. »Ist noch Tee da?«
»Nur die Brühe, die du da kochst«, sagte Hirad von der anderen Seite des Feuers aus. »Muss das denn alles sein?«
Ilkar lächelte. »Morgen wirst du froh sein, dass du die Brühe hast.«
Er musste allerdings zugeben, dass er und Ren das Feuer vollständig in Beschlag genommen hatten. An Kayloors Spieß hingen drei Töpfe. Hirad hatte zusammengeknüllte, mit Rubiacfrüchten getränkte Tücher um die Hände gewickelt, und eine weitere Portion kochte gerade für Darrick, der ebenfalls einige Blasen hatte. Daneben zog Aebs Legumia durch, und im dritten Topf schwamm ein Dutzend gestampfte
Weitere Kostenlose Bücher