Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
umherschlenderte. Hoch am Himmel kreiste der letzte Kaan-Drache, mit dem sie einen unbehaglichen Frieden geschlossen hatten. Er hatte ihnen allen den Tod angedroht, falls sie sich nicht benahmen, und keiner von ihnen bezweifelte, dass er fähig war, seine Drohung in die Tat umzusetzen. Überdeutlich hatten sie gesehen, was passieren konnte, wenn er wütend war. Deshalb wünschten sich die fünf Magier und die fünfzig Protektoren,
die auf der Insel geblieben waren, sie hätten vor etwa dreißig Tagen mit dem Schiff auslaufen dürfen.
Nyam lief ein Stück weit über die schön angelegten Terrassen, auf denen viele, schon lange verstorbene Al-Drechar ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Diera war mit Jonas dort, ihrem lachenden kleinen Jungen. Sie pflegte das Grab des Nachtkindes Lyanna, während der Kleine nach oben starrte und auf den kreisenden Sha-Kaan deutete.
Wieder lächelte Nyam und sah sich widerstreitenden Emotionen ausgesetzt. Er sehnte sich nach seiner Frau und seiner Familie, er verstand Dieras Einsamkeit, und er konnte nicht bestreiten, dass er sie anziehend fand. Alle Männer fanden sie anziehend, und nicht selten war sie das Thema deftiger Bemerkungen, doch niemand wagte es, sie anzurühren. Die Frau des Unbekannten Kriegers ließ man besser in Ruhe, ganz egal, wie weit er entfernt war.
Der Anteil in ihm, der Mitgefühl für ihre Hilflosigkeit empfand, da sie allein und so weit von der Heimat entfernt war, behielt die Oberhand. Manchmal stand sie verloren auf den Klippen und blickte zum Kanal hinab, durch den jedes Schiff kommen musste, oder sie wanderte stundenlang über die kleine Insel, trug Jonas auf den Armen oder half ihm, wenn er laufen lernen wollte.
Sie sonderte sich ab. Den Xeteskianern ging sie völlig aus dem Weg, nie sprach sie mit einem Protektor, und auch für die Al-Drechar schien sie sich nicht zu interessieren. Mit ihnen sprach sie eher wie mit alten Tanten und nicht, als wären sie mächtige Magierinnen. Sie aß mit den wenigen Elfen der Gilde der Drech, die sich um die sterbenden Alten kümmerten, und redete, soweit Nyam es sagen konnte, gelegentlich mit Sha-Kaan. Es schien eigenartig, doch im Grunde war es völlig vernünftig. Der Drache unterhielt eine telepathische Verbindung zum Barbaren Hirad Coldheart.
Es hatte mit dem Orden der Drachenmänner zu tun, er hatte darüber gelesen.
Nyam drehte sich um, als jemand seinen Namen rief. Jetzt war er wieder an der Reihe, sich zu den Al-Drechar zu setzen und zu sehen, ob er einige Punkte klären konnte. Wieder lächelte er. Vielleicht war dies der Tag, an dem endlich etwas geschehen würde. Er hatte lange genug gewartet.
In der Abenddämmerung versammelten sie sich. Heryst und sein engster Berater Kayvel beobachteten sie von einem Fenster hoch droben im Turm. Natürlich hatte er gewusst, dass Darrick unglaublich beliebt war, doch dies war, besonders angesichts seiner Fahnenflucht, ein beispielloser Vorgang. Männer verließen ihre Posten und verzichteten auf ihre Mahlzeiten. Da ein großer Teil der Armee im Norden und Osten von Xetesk gebunden wurde, war die Versammlung nicht sehr groß, aber nichtsdestotrotz beeindruckend.
»Niemand patrouilliert mehr in den Straßen und auf den Mauern.«
Heryst nickte. »Es ist jedoch eine respektvolle Versammlung. Sie alle kennen das Gesetz.«
»Sie lieben Darrick«, bemerkte Kayvel. »Glaubt nicht, dass sich ihre Achtung auch auf Euch erstreckt.«
»Wir müssen die Ordnung wahren«, sagte Heryst. Er sah sich um. Seine Leibwache, vier erfahrene Soldaten, wartete hinter ihm. Die vorherrschende Stimmung hatte nicht auf alle Angehörigen der Streitkräfte übergegriffen.
»Und was wollt Ihr nun dagegen tun?« Kayvel deutete auf die Menge, die inzwischen sicher mehr als hundert Köpfe zählte und weiter wuchs.
»Nichts«, erwiderte Heryst. »Es muss ihnen erlaubt sein, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Jedenfalls solange die Proteste friedlich bleiben.«
»Dann haltet Ihr sie für gerechtfertigt?«
»Und ob«, sagte Heryst leise. Mit einem flauen Gefühl im Magen beobachtete er wieder die Kavalleristen und Soldaten vor den Quartieren. Wahrscheinlich war dies der schlimmste Tag seiner ganzen Amtszeit. »Doch was bleibt mir anderes übrig? Er ist nicht der Erste, der in diesem Krieg wegen Fahnenflucht verurteilt wird. Ihr kennt die Stimmung im Rat und draußen in der Stadt. Wir sitzen zwischen allen Stühlen, und unsere Entscheidung, uns abermals mit Dordover zu verbünden, ist
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