Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
auf keine große Gegenliebe gestoßen.«
»Glaubt Ihr denn, es hilft Euch, unseren berühmtesten Sohn hinzurichten?«
»Wir müssen dem Gesetz Genüge tun. Niemand darf über dem Gesetz stehen, sonst droht die Anarchie.« Heryst seufzte und bemühte sich, rasch das Thema zu wechseln. »Wo ist der Rabe?«
»Sie sind in ihren Gemächern und essen«, sagte Kayvel.
»Gut.« Heryst wandte sich vom Fenster ab. »Lasst sie genau beobachten. Ich will vermeiden, dass sie die Menge aufhetzen. Und sagt den eingesetzten Magiern, dass sie besonders wachsam sein müssen.«
»Traut Ihr ihnen nicht?«, fragte Kayvel überrascht.
»Den Rabenkriegern?« Heryst lächelte. »Oh, ich traue ihnen unbedingt. Ich traue ihnen zu, dass sie irgendetwas versuchen werden. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass sie wirklich bescheiden anklopfen, um Darricks Leichnam abzuholen?«
»Warum habt Ihr sie dann nicht aus dem Kolleg verscheucht?«
Heryst holte tief Luft und nagte an der Unterlippe. Er sah Kayvel lange an, bis sich dessen Gesichtsausdruck veränderte, als er zu verstehen begann. Er trat sehr nahe an Heryst heran und beugte sich vor, bis sich ihre Gesichter
beinahe berührten. »Ihr spielt ein sehr gefährliches Spiel, Mylord«, zischte der Ratgeber leise.
»Ganz im Gegenteil, es besteht kein Risiko«, flüsterte Heryst. »Die Rabenkrieger sind keine Mörder. Allerdings sind sie sehr geschickt.«
Kayvel schnalzte mit der Zunge, und Heryst fuhr fort.
»Ich versichere Euch, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um sie aufzuhalten, falls sie einen Befreiungsversuch unternehmen sollten. Allerdings fürchte ich, dass ich nicht genügend Männer erübrigen kann, um sie verfolgen zu lassen.«
»Ihr müsst Befehl geben, dass die Tore geschlossen werden«, sagte Kayvel.
»Das kann ich nicht tun«, entgegnete Heryst. »Ihr kennt unsere Gesetze, und es besteht keine äußere Bedrohung für das Kolleg. So ist es nun einmal in Lystern.«
Kayvel wandte sich kopfschüttelnd ab und trat einen Schritt näher ans Fenster. Als er sich umdrehte, war ihm nicht anzusehen, was er dachte.
»Ihr begeht einen Fehler«, sagte er.
Heryst trat neben ihn und blickte in den Hof hinab zur Menge, die schweigend im Hof stand.
»Wenn es ein Fehler ist, dass ich dem Raben die Möglichkeit gebe, einen der ihren in Würde zu verabschieden, dann will ich diesen Fehler gern begehen.«
»Ihr wisst genau, was ich meine«, fauchte Kayvel.
»Ja, das weiß ich«, flüsterte Heryst. »Darrick ist mein Freund. Ich bin es ihm schuldig, ihm diese Chance zu geben.«
Kayvel lenkte ein wenig ein. »Ich hoffe nur, Ihr wisst, was Ihr tut.«
»Das hoffe ich auch, mein Freund«, sagte Heryst. »Das hoffe ich auch.«
Fünftes Kapitel
Kurz nachdem die letzte Stunde des Tages geschlagen hatte, verließen die Rabenkrieger ihre Gemächer und gesellten sich zur schweigenden Menge im Hof. Etwa zweihundert oder mehr lysternische Soldaten, viele von ihnen Darricks Männer, hatten ihre Posten im Kolleg und in der Stadt verlassen und sich versammelt.
Der Rabe teilte sich auf, wie es der Unbekannte geplant hatte, und mischte sich unter diejenigen, die ganz vorn an der Tür zum fensterlosen Zellenblock neben den Quartieren standen. Sie hatten sich geschickt postiert, um den Zugang zu den Zellen und den Ausgang des Turms im Auge behalten zu können. Bald musste Heryst dort erscheinen. Der Unbekannte sah Hirad nicht, vernahm aber dessen Stimme, als der Barbar ohne anzuhalten hinter ihm vorbeiging.
»Der Stall ist verlassen, alle sind hier draußen. Unsere Pferde sind gesattelt und bereit.«
Der Unbekannte sagte nichts. Die Stunde der Hinrichtung rückte näher, und im gleichen Maße wuchs die Unruhe unter den Menschen, die sich hier versammelt hatten,
nachdem Darrick bei Einbruch der Dunkelheit in den Zellentrakt gesperrt worden war. Viele murmelten, verstummten aber, als quietschend eine Tür geöffnet wurde. Alle drehten sich zum Turm um. Sechs Männer kamen aus dem mit Kohlenpfannen erleuchteten Eingang und traten in die Schatten des Hofs hinaus. Sie schritten zuversichtlich und gemessen aus.
Heryst und sein Ratgeber Kayvel kamen in Begleitung von vier Schwertkämpfern. Ihre Waffen steckten in der Scheide, doch die Männer beobachteten unablässig die Menge. Der Unbekannte wusste natürlich, dass der Rabe streng überwacht wurde, doch das sollte keine Rolle spielen.
Die Rabenkrieger standen gleich hinter der vordersten Reihe und warteten. Heryst und seine Leibwächter
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