Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
verloren.
»Hört auf, mir die Stirn abzuwischen, und erzählt mir, was heute passiert ist.« Ranyls Stimme war immer noch kräftig, obwohl die Worte von keuchenden Atemzügen unterbrochen wurden.
Dystran warf das Tuch in die Schale, die links neben ihm stand, und lächelte. »Entschuldigt. Ich wollte Euch nicht bemuttern, aber ich wünschte, Ihr würdet mich Eure Schmerzen ein wenig lindern lassen.«
»Ich habe eine ganze Ewigkeit vor mir, in der ich überhaupt nichts mehr spüren werde, Mylord«, erwiderte Ranyl. »Lasst mich so lange wie möglich fühlen, was immer ich fühlen kann, auch wenn es etwas ungemütlich wird.«
Es war weit mehr als nur etwas ungemütlich. Ranyls angespanntes, bleiches Gesicht, die teigige Haut und die fiebernde Stirn sprachen eine beredte Sprache. Doch der Greis hatte bestimmt, dass niemand ihm Linderung verschaffen durfte, wenn er selbst nicht mehr dazu in der Lage war. Nicht einmal der Herr vom Berge.
»Nun sagt mir, junger Spund«, fuhr Ranyl fort, und sein Gesicht wurde etwas weicher, als er so vertraulich sprach, »was beschäftigt heute den mächtigsten Mann Balaias?«
»Also, alter Knochen«, antwortete Dystran auf die gleiche vertrauliche Weise, »wir wurden heute Zeugen eines außerordentlichen Ereignisses. Irgendetwas ist mit der julatsanischen Mana-Kontrolle geschehen. Bei den Kämpfen heute Morgen haben auf einen Schlag alle julatsanischen Sprüche versagt; es kam aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung. Ich habe Leute abgestellt, die das Spektrum erkunden und versuchen sollen, die Lage möglichst genau einzuschätzen, neige allerdings zu der Ansicht, dass es nur eine vorübergehende Störung war.«
»Die Ihr jedoch zu Eurem Vorteil genutzt habt?«
»Ohne dabei unsere Kräfte zu sehr zu beanspruchen, in der Tat«, bestätigte Dystran.
»Und mit welchem Ergebnis?«
»Ich konnte anschließend eine große Anzahl Magier zurückrufen und für den Vorstoß nach Norden sammeln.«
»Dennoch seid Ihr unzufrieden.« Ranyl hielt den Atem an, als er einen scharfen Stich im Magen verspürte. Er schloss die Augen und wartete, bis die Schmerzen vorbei waren. »Was ist los?«
Dystran hielt dem Blick des alten Mannes nicht stand, das hatte er noch nie gekonnt. Nervös kichernd stand er auf und begann umherzulaufen. Wieder plagten ihn seine Ängste. In Augenblicken wie diesem fragte er sich, wie er überhaupt so lange als Herr vom Berge hatte überleben können. Wahre Anführer besaßen doch sicherlich eine größere Selbstsicherheit und mehr innere Stärke. Er dagegen war unsicher, es lief ihm kalt über den Rücken, es kribbelte in seinem Nacken, und er war drauf und dran, in Panik zu geraten.
»Sind meine Entscheidungen richtig? Sind unsere Pläne wirklich das Beste für Xetesk und Balaia?«
Ranyl atmete schwer. »Es ist nur natürlich, dass Ihr über den richtigen Weg grübelt«, sagte er leise. »Denn nur wenn Ihr Eure Taten hinterfragt, könnt Ihr sicher sein, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Und das habt Ihr getan, Mylord. Xetesk muss herrschen, und Ihr müsst der Herrscher sein. Macht Euch keine Sorgen wegen Eurer Zweifel, solange Euch nur Euer Mut nicht verlässt.«
Dystran setzte sich wieder, wrang das kalte Tuch aus und wischte seinem Mentor die Stirn ab. Dem alten Mann ging es mit jedem Augenblick schlechter.
»Wer soll mich anleiten, wenn Ihr nicht mehr seid?«, flüsterte er.
»Ihr braucht keinen Führer. Ihr könnt den Weg auch selbst erkennen, das wisst Ihr.« Ranyl räusperte sich und keuchte abermals vor Schmerzen. »Das war aber jetzt genug Seelenschau für heute. Ich ermüde rasch und möchte wissen, wie die Forschungen an den Elfentexten vorankommen. Und
ich würde gern die letzten Neuigkeiten aus Herendeneth hören.«
Dystran entspannte sich. »Das Aryn Hiil ist ein wahrer Schatz, ein großartiger Fund. Bisher haben wir nur einige wenige Geheimnisse entschlüsselt, doch es ist klar, dass die Verbindung der Elfen zu allen Elementen viel tiefer reicht, als es sich irgendjemand bisher vorstellen konnte. Es ist keine bloße Legende, und eines dieser Elemente ist die Magie. Wir hatten recht, und das Aryn Hiil kann uns unendlich viel schenken. Es ist die zentrale Schrift der elfischen Überlieferung, und man kann kaum in Worte fassen, wie wichtig es ist.«
In Ranyls wässrigen Augen schimmerte eine neue Energie. »Wie lange brauchen wir noch, bis wir über Sprüche verfügen, die sich diesen Fund zunutze machen?«
»Ich hoffe, sehr bald schon die
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