Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
der Wesmen hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden.
»Ich brauche Eure Hilfe«, sagte Devun einfach. Er bemühte sich, Worte zu wählen, die Riasu verstehen konnte. »Ich will den Wesmen ein Angebot machen.«
Riasu zog die Augenbrauen hoch. »Ein Angebot? Wir brauchen Euch nicht.«
»Was ich anbieten kann, wollt Ihr bestimmt. Ich muss jedoch mit Lord Tessaya sprechen. Er ist doch noch Euer Anführer?«
Riasu zuckte mit den Achseln. »Ja. Aber ich kann ihm übermitteln, was Ihr mir sagt.«
Devun schüttelte den Kopf. »Ich muss ihn sehen, ich muss selbst mit ihm sprechen. Fragt ihn. Ich warte auf Eure Antwort.«
»Ich denke darüber nach.«
»Danke«, sagte Devun.
Wieder ein Achselzucken, dann wandte Riasu sich zum Gehen.
»Lord Riasu«, sagte Devun und wartete, bis der Lord der Wesmen sich wieder umdrehte. »Wir sind hungrig und durstig. Könntet Ihr Wasser und Essen entbehren?«
Riasu lachte bellend. »Eigentlich solltet Ihr tot sein. Dies hier ist unser Land. Seid froh, dass Ihr noch atmet.« Er hielt inne. »Ich werde darüber nachdenken.«
Devun sah ihm nach und wartete, bis sich das Tor hinter ihm geschlossen hatte, ehe er die Wangen aufblies und sich an seine Männer wandte.
»Nun, was meint ihr?«
»Ich denke, wir leben noch, und mehr konnten wir erst einmal nicht erwarten«, sagte einer. »Was nun?«
Devun kratzte sich am Kopf. »Uns bleibt nichts anderes übrig. Wir warten.«
Als Pheone aufwachte, fiel schon helles Sonnenlicht ins Zimmer. Der Raum befand sich in einem neu errichteten Gebäude im Süden des Kollegs von Julatsa und war noch nicht mit Fensterläden ausgestattet. Hätte sie hinausgeschaut, dann hätte sie einen großen Teil des Kollegs vor sich liegen sehen, doch trotz des schönes Tages war ihr keineswegs danach, die Aussicht zu genießen.
Ihr war übel. Sie hatte einen schweren Kopf, und ihr Magen polterte, als hätte sie am vergangenen Abend etwas Verdorbenes gegessen. Sie wusste jedoch, dass es nicht am Essen lag, und lächelte wehmütig. Sie wünschte, das Essen wäre der Grund gewesen, denn dann hätte sie ausschließen können, dass es etwas viel Schlimmeres war.
Pheone versuchte sich zu entspannen und zu konzentrieren und stimmte sich aufs Mana-Spektrum ein. Dort lag die Quelle der Übelkeit, sie war ganz sicher. Einen schrecklichen Augenblick lang tastete sie blind umher, doch dann sah sie es vor dem inneren Auge: die sanfte Strömung des gebündelten Mana, die Signatur des Spektrums im Zentrum eines Kollegs.
Allerdings fühlte es sich nicht richtig an. Der Strom war zu schwach, das konnte sie ganz deutlich erkennen. Außerdem schien die Mana-Konzentration nachzulassen – ein Hinweis darauf, dass das Herz starb. Sie runzelte die Stirn. Diesen leichten Rückgang beobachteten sie nun schon eine ganze Weile, und sie war sicher, dass sie sich nicht allein deshalb so unwohl fühlte. Es musste noch etwas anderes sein. Sie verfolgte den Strom bis tief ins Herz hinein, bis zum Zentrum aus konzentriertem Mana, dem pulsierenden Bezugspunkt des ganzen Kollegs, dem Zentrum seiner Macht – dem menschlichen Auge verborgen, nur im Mana-Spektrum sichtbar.
Es ruhte so, wie es vor einigen Jahren begraben worden
war. Jahre, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. Die Versenkung des Herzens hatte alle Aktivitäten des Kollegs erlahmen lassen. Die Julatsaner wurden nicht mehr zum Kolleg gerufen, weil der Puls nicht laut genug schlug. Diejenigen, die noch dort waren, hatten am Glauben festgehalten, das Herz schlage weiter so stark wie früher. Sie hatten sich geirrt.
Pheone forschte weiter, erkundete den Kern und nahm den Mana-Strom in sich auf, als stünde sie draußen inmitten einer warmen Frühlingsbrise. Einen Moment lang fühlte sie sich geborgen, doch es war ein trügerisches Gefühl.
Wie von einem kalten Guss getroffen, zuckte sie zusammen und riss die Augen auf. Das Herz verlor seine Farbe. Normalerweise war das julatsanische Mana prächtig und strahlend gelb, oder sogar golden, wenn man romantisch veranlagt war. Die Farbe der strahlenden, kraftvollen Magie ihres Kollegs war ein Symbol für das Leben selbst.
So hätte es sein sollen.
Was Pheone mit ihren erfahrenen, geschulten Sinnen wahrnahm, war trüb. Befleckt. Nicht sehr stark, aber unübersehbar. Ähnlich einem Schatten, der über das Land zieht und die schönen Farben verdeckt. So war es um das Herz von Julatsa bestellt. Ein Schatten lag darüber, dämpfte seine Schönheit und raubte ihm die Kraft.
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