Die Legenden des Raben 04 - Zauberkrieg
der Regen, der die Kleider schwer machte und ihre Körper auskühlte.
»Kannst du reiten?«, fragte der Unbekannte auf einmal. Seine Stimme war gerade laut genug, um das Unwetter zu übertönen.
»Ich würde jeden küssen, der mir ein Pferd schenkt, ich würde das Pferd küssen und mit einem einzigen Satz auf seinen Rücken springen.«
»Das will ich sehen.«
Hirad hob den Kopf und bemerkte, so unglaublich es schien, dass der Unbekannte lächelte. Der große Mann nickte, und Hirad folgte seinem Blick. Vor ihnen, unter einer Baumgruppe halb verborgen, stand eine Gruppe Elfen auf dem Abhang eines kleinen Hügels. Jeder hielt ein Pferd am Zügel, und die Tiere grasten friedlich oder blickten gelassen in die Runde. Nein, nicht alle waren Elfen – einer, der neben Rebraal stand, war größer und breiter als die anderen.
»Blackthorne«, sagte Hirad.
»Ich habe gehört, dass Bärte die Haut wund reiben«, sagte der Unbekannte. »Mach den Mund lieber wieder zu.«
Hirad lachte. Ein kurzes Lachen war es, das eine neue Schmerzwelle durch seine Brust schießen ließ. Die Elfen und Blackthorne führten ihnen die Pferde entgegen. Der Barbar blieb stehen und sah sich um. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle zu Boden gesunken, doch ihm war klar, dass er dann vielleicht nie wieder würde aufstehen können. Thraun wirkte sehr erleichtert, und auch Densers Miene hellte sich ein wenig auf.
»Könnt Ihr vielleicht ein Pferd gebrauchen?«, fragte Blackthorne, als er vor ihnen stand.
»Jetzt, da Ihr es erwähnt – ich denke schon«, antwortete Hirad.
Blackthornes dunkle Augen funkelten, doch sein Gesichtsausdruck war ernst, als er die Rabenkrieger betrachtete.
»Kommt mit«, sagte er. »Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Ihr braucht Hilfe, Ihr alle.«
Hirad nickte. »Den Kuss bekommt Ihr dann später.«
»Wie bitte?«
»Schon gut«, sagte der Unbekannte und fasste Blackthorne am Arm. »Wir werden Euch das nicht vergessen.«
Es dauerte lange, bis Erienne bemerkte, dass die Welt, die sie gekannt hatte, verschwunden war. Es dauerte lange, bis sie überhaupt irgendetwas bemerkte. Das Wachbewusstsein war keine Selbstverständlichkeit mehr, dachte sie. Aber konnte sie überhaupt denken? Womöglich war es nur ein Traum, was bedeutet hätte, dass sie sich ihrer Lage nicht unbedingt bewusst war. Sie hatte kein Gefühl dafür, dass sie atmete oder überhaupt noch am Leben war. Ihre gewohnten Sinne verrieten ihr nichts. Sie hätte tot sein können.
Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker wurde ihr Eindruck, sie sei tatsächlich dem Tod geweiht. Ihre Erinnerungen waren zersplittert. Nicht die an ihre Vergangenheit – die waren klar wie eh und je. Doch irgendwann hatte ein Übergang stattgefunden, und vor allem zwischen Myriells markerschütterndem Schrei und dem Wiedereinsetzen ihrer Denkprozesse waren die Erinnerungen zusammenhanglos und wirr.
Einiges war noch da – gedämpfte Rufe und Schmerzen, stark wie noch nie, die ihr Bewusstsein marterten. Stimmen im Dunklen. Ein eigenartiger Geruch wie von brennendem Lack. Ein Gefühl, als werde ihr Bewusstsein von einem engen Netz umfangen, das sich immer weiter zusammenzog.
Mit diesem Gefühl erwachte sie wieder – mit dem Gedanken, dass sie sich wehren musste. Da sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war, konnte sie auch nicht sagen, wie lange ihr Bewusstsein bereits angegriffen wurde. Ein Angriff war es aber ganz sicher. Als hätte es die ganze Zeit auf einen Fehler gewartet, hatte das Eine sofort auf Myriells Tod reagiert, sobald seine Macht nicht mehr unterdrückt wurde.
Eine Kraft, die viel zu stark war, als dass sie kontrolliert oder umgelenkt werden konnte, hatte in Erienne getobt, ihr Bewusstsein als Brennpunkt benutzt und sich auf die Elemente
ringsum gestürzt. Doch das Eine hatte sich nicht völlig ungehindert austoben können. Irgendetwas hatte es von außen blockiert. Denser. Er musste es sein, denn nur er begriff es. Unter allen, die ihr beigestanden hatten, war nur er dazu fähig.
Zum ersten Mal seit einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, verspürte sie eine Wärme in ihrem Bewusstsein. Sie tastete sich vor und suchte behutsam nach Cleress, doch die Al-Drechar war nicht da. Vielleicht war auch sie schon tot. Wahrscheinlich sogar. Das bedeutete, dass Erienne das Eine allein bekämpfen musste. Nicht, um es zu besiegen, sondern um es ihrem Willen zu unterwerfen. Sie stellte sich eine riesige Spinne vor, deren Körper, so groß
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