Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
ihnen auf den Lippen, als sie erkannten, was sie erwartete. Der Unbekannte warf Hirad einen mörderischen Blick zu und drehte sich um, damit er sie kommen sehen konnte – die Gefährten, die wiederzusehen er nicht gehofft hatte. Darrick, Thraun, Rebraal, Auum, Duele, Evunn.
»Hirad, was ist hier los?«, zischte er.
»Ich glaube, wir brauchen jetzt einen Drink«, sagte Hirad.
Was der Unbekannte auch als Nächstes sagte, Hirad konnte es nicht verstehen, weil Jonas zu weinen begann und Diera immer wieder »Nein!« rief.
»Da, seht Ihr?« Kayvel deutete nach Südwesten.
Heryst war einer von einem Dutzend Menschen, die im
höchsten Raum des Turms von Lystern das Gesicht ans Fenster pressten. Es war ein trüber, regnerischer Tag, dessen Stimmung dem Elend der Bevölkerung und der versklavten Stadt entsprach. Er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was er sehen sollte, denn seine Blicke wanderten immer wieder zu dem Elend und dem Schrecken, die sich täglich unter ihm entfalteten.
Die Dämonen hatten die Menschen, die vorläufig weiterleben durften, in den Gebäuden versammelt, die das Kolleg umgaben. Einige Stadtviertel, die für die rebellischen Magier gut einzusehen waren, hatten sie geräumt und Platz für Getreide und Vieh geschaffen. Falls es überhaupt noch nötig gewesen wäre, so hätte dies als beständige Erinnerung daran dienen können, dass die Lysternier kaum mehr tun konnten, als mit Mühe und Not zu überleben.
In den letzten zwei Jahren hatten sie ihren Einflussbereich im Kolleg zwar etwas erweitern können, doch draußen gehörte ihnen nichts. Sie besaßen eigene Brunnen, mussten jedoch die Bauernhöfe überfallen, um etwas zu essen zu bekommen, oder schnell und hoch fliegen, um zu jagen oder in entfernteren Gegenden, an denen die Invasoren offenbar kein Interesse hatten, auf Beutezug zu gehen. Die Magier, die solche Flüge wagten, hatten sich einen Eindruck vom Zustand Balaias verschafft. Es waren schlimme Neuigkeiten gewesen.
Wer bisher noch außerhalb der Kontrolle der Dämonen lebte, schwebte ständig in Gefahr, in das unaufhaltsam wachsende Netz einbezogen zu werden. Abgesehen von den Kollegstädten regierten die Dämonen jetzt mit einer einzigen Ausnahme in allen größeren Siedlungen. Korina, Gyernath und alle Fürstentümer im Norden und Osten waren erobert, nur Blackthorne bildete im Süden eine letzte
Bastion. Es war ein beredtes Zeugnis für Baron Blackthornes Klugheit und Weitsicht, dass er immer noch frei war, sofern man in dieser Zeit überhaupt einen Menschen frei nennen konnte. Außerhalb der Kollegien hatte sich nur Blackthorne geweigert, die Magier in seiner Stadt zu opfern oder zu vertreiben, als die Schwarzen Schwingen ihre Blütezeit erlebt hatten. Allein dank dieser Entscheidung war er heute noch am Leben.
In den verstreuten Dörfern, isolierten Gehöften und Weilern ging das Leben mehr oder weniger weiter, doch die Menschen begaben sich nicht mehr auf Reisen und trieben keinen Handel mehr. Schließlich kontrollierten die Dämonen alle Märkte und Häfen und hatten rings um Blackthorne einen undurchdringlichen Belagerungsring gezogen. Wer in den kleinen Siedlungen lebte, wäre gern geflohen, doch es gab keine Schiffe mehr, die irgendwohin fuhren. Ein paar hatten versucht, sich bis zum Understone-Pass durchzuschlagen, doch man hatte nie wieder von ihnen gehört.
Überall klangen die Geschichten über das, was die Dämonen taten, sehr ähnlich. Niemand, der keine Kinder zeugen oder gebären konnte, wurde am Leben gelassen. Die Alten, Kranken und Unfruchtbaren waren gleich zu Anfang der Besetzung ihrer Seelen beraubt worden. Diejenigen, die noch übrig waren, wurden als Arbeitskräfte eingeteilt. Sie durften sich auch vermehren und damit den Vorrat an Seelen ergänzen. Während die nächste Generation geboren wurde und heranwuchs, sättigten sich die Dämonen, indem sie den Menschen langsam die Lebenskraft aussaugten. Mit entsetzlicher Behutsamkeit berührten sie die Menschen und nahmen sich nur das, was sie brauchten.
Heryst hatte es aus den Fenstern seines Kollegs beobachtet. Er fragte sich, warum die versklavten Menschen
nicht einfach aufgegeben und sich selbst und ihren Kindern das Leben genommen hatten. Er hatte in ihren Gesichtern den andauernden Schrecken und die Fassungslosigkeit gesehen. In den Augen, die weder tot noch lebendig waren. Blicke voll erloschener Hoffnung.
Irgendwo in ihnen, oder jedenfalls in den meisten, lebte jedoch noch der Wille zu
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