Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
überleben. Er trieb sie an, die Nächte voller Ängste zu überstehen, wohl wissend, warum sie am Leben gehalten wurden. Der menschliche Geist, der niemals gebrochen werden konnte.
Heryst verstand, warum dieses innere Licht noch brannte. Es war nicht erloschen, weil sie jeden Tag das Kolleg sehen konnten, das immer noch durchhielt. Eine Fackel, die sie durch die schwärzesten Momente führte. Etwas, an das sie sich klammern konnten, wenn sie sich ohnmächtig fühlten. Diese Erwartung lastete auf Heryst und den wenigen, die daran arbeiteten, eine Antwort zu finden. Deshalb schaute Heryst jeden Tag hinaus: Um sich daran zu erinnern. Sie mussten zurückschlagen. Sie mussten es einfach versuchen. Wenn sie nur die Mittel dazu besessen hätten.
»Mylord?«
»Kayvel«, sagte Heryst. »Es tut mir leid, ich war in Gedanken.«
»Bitte, wendet den Blick doch einen Moment von der Stadt ab.« Kayvel legte ihm die Hand auf die Schulter, und er spürte, wie knochig und mager sie war.
»Zeigt es mir noch einmal.«
»Blickt in Richtung Xetesk und sagt mir, was Ihr seht.«
Heryst trat es. Unter den schiefergrauen Wolken schwebte im Südwesten ein heller Fleck am Himmel. Schwach, aber unverkennbar. Manchmal stärker, manchmal verblasst. Er schien eine hellblaue Aura zu haben, doch wegen der Entfernung konnte man nicht sicher sein.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ihr habt Euch doch gefragt, warum die Dämonen uns auf einmal nicht mehr angreifen«, antwortete Kayvel.
»Ja.« Heryst zuckte mit den Achseln und löste sich vom Fenster. »Und?«
Kayvel deutete auf die Erscheinung. »Ich glaube, das dort ist der Grund.«
Heryst sah ihn unbewegt an. »Das müsst Ihr mir näher erklären.«
»Selbstverständlich.« Kayvel kicherte und kratzte sich am Bart. Alle trugen jetzt Bärte. Es gab wichtigere Dinge, als sich jeden Tag die Dolchklinge ans Kinn zu setzen. Es sei denn, die Läuse breiteten sich aus. Dann rasierten sie sich. »Wir wissen, dass die magischen Kräfte, die wir Magier besitzen, uns und unsere Seelen für die Dämonen so wertvoll machen. Deshalb haben sie gleich am Anfang die Kollegien angegriffen.«
Heryst nickte und wollte ihm gerade sagen, er solle doch aufhören, das Bekannte wiederzukäuen. Dann wurde ihm bewusst, dass Kayvel nicht nur zu ihm, sondern auch zu allen anderen im Raum sprach, die inzwischen verstummt waren und zuhörten.
»Sie haben sich allerdings recht schnell zurückgezogen, sobald ihnen klar wurde, dass sie uns nicht ohne große eigene Verluste niederringen können. Wir haben erfahren, dass dies in Julatsa und Xetesk ähnlich aussah, nur über Dordover wissen wir nichts. Wenn Ihr mich fragt, ist es dort drüben beunruhigend still.«
Ein Murmeln erhob sich im Raum. Heryst sah sich um. Auf der großen Tafel saßen die Magier, die den Kaltraum aufrechterhielten, völlig auf ihren Spruch konzentriert. Zwei andere saßen neben ihnen und überwachten so gut sie konnten das Manaspektrum, ob über die Mana-Strahlen,
die den schützenden Spruch speisten, irgendwelche Mitteilungen hereinkamen. Wie stark sie alle unter diesen widrigen Umständen gewesen waren. Welche Charakterstärke viele gezeigt hatten. Heryst wusste nicht, wie es bei den anderen aussah, aber ohne die Willenskraft dieser Leute hätte er längst aufgegeben.
Kayvel fuhr fort: »Dann scheint klar zu sein, dass sie auf etwas warten, das eintreten muss, ehe sie uns mit Hoffnung auf Erfolg und ohne große Verluste angreifen können, nicht wahr?«
»Das ist nur logisch«, stimmte Heryst zu.
»Sie sind bei der Eroberung Balaias sehr systematisch vorgegangen. Es war ein Feldzug wie aus dem Lehrbuch.«
»Das klingt, als empfändet Ihr Achtung vor ihnen.«
»Wir sollten diese Gegner achten«, sagte Kayvel, »denn die chaotischen Geschöpfe, von denen unsere Legenden erzählen, haben nichts mit dem organisierten Volk zu tun, das wir jeden Tag beobachten können. Wir müssen aufhören, sie als das Böse zu sehen, von dem die Mythen erzählten, und beginnen, sie als fähige, kluge Feinde zu betrachten, die ihre Kräfte genau einzuteilen wissen.«
»Haben wir das nicht schon immer getan?«, fragte jemand aus der Menge, der näher herbeigekommen war, um besser zu hören.
»Nein, Renarn, das glaube ich nicht«, erklärte Kayvel dem hageren Jugendlichen. »Es ist nicht leicht, auf einen Schlag die Lehren von tausend Jahren zu verwerfen. Vergiss nicht, dass wir alle, mit Ausnahme von Xetesk und in gewissem Ausmaß auch Julatsa, die Dämonen
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