Die Legenden des Raben 06 - Heldensturz
hatten sie die Dämonen besiegt. Seelenfresser waren durch die Fenster und Türen des großen Ratssaales hereingestürmt und hatten mehr als einmal versucht, die beiden letzten Gruppen der Kaltraum-Magier auszuschalten. Es war eine verzweifelte Schlacht gewesen, aber sie hatten gesiegt.
Wie immer hatten sie allerdings einen viel zu hohen Preis dafür zahlen müssen. Im Saal verstreut lagen tote Dämonen und Lysternier, die fortgeschafft werden mussten. Wieder einmal galt es, das Blut und den Schleim vom Boden abzuwischen, aber der Gestank würde unweigerlich zunehmen, und mit ihm auch die Übelkeit. Er schob den Gedanken zur Seite. Wenn er sich umsah, wurde ihm
klar, dass sie für Empfindlichkeiten sowieso keine Zeit mehr haben würden.
Wie schnell Hoffnungen doch ausgelöscht werden konnten. Vor kurzem hatten sie noch über einen Ausbruchsversuch nachgedacht. Sie hatten Pläne entwickelt, um einige Wagen in ihren Besitz zu bringen, und sich den Fluchtweg aus der Stadt eingeprägt. Sie hatten Vorräte angelegt und Schläuche mit Wasser gefüllt. Sie waren bereit gewesen, jederzeit aufzubrechen.
Dann auf einmal hatten die Dämonen ohne Vorwarnung zu einem Angriff angesetzt, den Heryst in dieser Stärke nicht für möglich gehalten hätte. Beinahe hätte er in einer Katastrophe geendet, die Dämonen waren erst im letzten Augenblick zurückgeschlagen worden. Nach drei aufeinanderfolgenden Attacken war die Zeit, die sie brauchten, um die Überlebenden zu versammeln, erschreckend kurz geworden. Sie zählten jetzt weniger als fünfzig.
Heryst ließ den Blick über seine Schutzbefohlenen wandern. Ihr Kampfgeist war ungebrochen, obwohl mit jedem Augenblick ihr unausweichlicher Tod näher rückte. Nacheinander betrachtete er sie und erkannte in ihren bleichen, blutverschmierten Gesichtern das Wissen um ihren drohenden Untergang. Arabelle, Makkan, Terol, Renarn … sie lebten noch, sie kämpften noch. Soldaten, Magier und Küchenjungen, alle waren stolz, aber erschöpft. Alle fragten sich, wie viele Angriffe sie noch überstehen konnten, ehe die Kaltraum-Magier getötet wurden.
»Warum haben sie den Angriff eingestellt?«, fragte Arabelle. »Sie hatten uns doch schon fast besiegt.«
»Vielleicht war ihnen das nicht klar«, überlegte Renarn. »Vielleicht wurden sie zu einer anderen Schlacht gerufen.«
Trotz ihrer schwierigen Lage, trotz Dreck, Kälte, Hunger und Durst, musste Heryst kichern. »Immer der Optimist, Renarn. Aber sonst haben wir ja auch nicht viel. Ich glaube, sie verhalten sich weiterhin vorsichtig, egal, wie übermächtig ihre Kräfte sind. Wir haben ihnen ja vor Augen geführt, dass wir sie durchaus verletzen können. Es sind viele, aber auch ihre Zahl ist begrenzt.«
Heryst winkte alle bis auf die Wachen zu sich, die auf dem Tisch standen und die wenigen Magier beschützten, die ihre letzte Hoffnung darstellten. Ein eigenartiges Hochgefühl ergriff von ihm Besitz.
»Meine Freunde«, sagte er, und seine Worte kamen von Herzen. »Wir haben die Feinde lange abgewehrt. Wir haben jenen Zeit erkauft, die stärker sind und den Dämonen größere Schäden zufügen können. Wir haben viele Dämonen hier gebunden, und das hat sie davon abgehalten, die Seelen anderer Menschen zu nehmen. Vergesst nie, was ihr geleistet habt. Nichts von allem, was ihr getan habt, war vergebens. Wenn die Dämonen noch einmal angreifen, könnte es das letzte Mal sein. Vielleicht sind sie nur verschwunden, um Bericht zu erstatten. Wer sich ihnen jetzt ergeben will, soll mit meinem Segen gehen. Vielleicht könnt ihr auf diese Weise überleben und doch noch auf Befreiung hoffen. Ich weiß nur, dass es keine Hoffnung gibt, wenn ihr hier bleibt.«
Niemand rührte sich. Heryst nickte.
»Damit habe ich gerechnet. Es wäre wie ein Verrat, nicht wahr?«
Zustimmendes Murmeln erhob sich.
»Wir wollen nichts, außer bis zum Ende neben Euch zu kämpfen«, sagte Arabelle.
»Dann ist jetzt der Augenblick gekommen, mit den Göttern, an die ihr glaubt, Frieden zu schließen und denen
Lebewohl zu sagen, die ihr liebt. Später wird es keine Gelegenheit mehr dazu geben. Ich werde noch mit euch allen sprechen, aber ihr wisst, wo ich beginnen muss.«
Heryst ging in eine stille Ecke des Saales. Einer der fünf, die dort auf behelfsmäßigen Lagern ruhten, war Kayvel. Sein alter Freund und Mentor war dem Tode nahe, und das war ein Segen. In den letzten Tagen hatte er sein Augenlicht verloren, und seine Haut war fahl und kalt. Heryst kniete vor ihm
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