Die Legenden des Raben 06 - Heldensturz
nieder und wischte ihm den Schleim von Nase und Mund.
»Habt Ihr gehört, was ich gesagt habe?«, fragte er leise.
»Es war eine passende Ansprache«, sagte Kayvel mit trockener, brüchiger Stimme. »Ihr trefft stets den richtigen Ton.«
»Dann wisst Ihr, warum ich hier bin.«
»Es ist mir eine Ehre, der Erste zu sein.«
»Wo sollte ich sonst beginnen, Kayvel?«
Kayvel fasste sein Handgelenk und bekam es beim zweiten Versuch zu fassen. »Dann hört mir ein letztes Mal zu. Ihr und die übrigen Magier müsst jetzt auf der Stelle fortgehen. Lystern darf nicht sterben. Lasst die Kalträume fallen, wirkt Schattenschwingen und fliegt fort.«
»Ich werde meine Leute nicht im Stich lassen.«
»Ihr wisst, dass ich recht habe«, widersprach Kayvel mit rasselndem Atem. »Es ist nicht der Augenblick für Gefühlsduselei.«
Heryst schwieg. Natürlich hatte Kayvel recht, aber es war ihm unmöglich, diesem Vorschlag Folge zu leisten. So lange kämpfte er schon gemeinsam mit diesen Menschen. Wie konnte er da auf Schattenschwingen emporsteigen und zusehen, wie sie unten starben?
Durch die geborstenen Fenster drang das unverkennbare Rumpeln anrückender Karron herein. Es klang sehr zielstrebig. Am Himmel schrien die Seelenfresser, und die Drohnen schnatterten. Heryst wandte sich noch einmal an Kayvel, um Lebewohl zu sagen.
»Lasst nicht zu, dass sie mich nehmen«, sagte Kayvel. »Ich will nicht meine Seele verlieren.«
»Wie Ihr wollt«, versprach Heryst.
Ein dumpfer Knall erschütterte den ganzen Turm. Dann noch einer und noch einer. Kurz darauf hallte ein beständiges Hämmern durch das ganze Gebäude. Putz fiel von den Wänden, die wenigen intakten Scheiben schepperten, und die Balken knarrten bedenklich in den Fugen. Das Hämmern verstärkte sich zusehends, bis der ganze Ratssaal bebte. Die Türen klapperten in den Rahmen.
»Bei den guten Göttern«, murmelte Heryst.
Kayvel hatte seine Hand nicht losgelassen. »Tut, was ich sage, Heryst. Bald habt Ihr keine Wahl mehr.«
Heryst beugte sich vor und küsste den sterbenden Mann auf die Stirn. »Lebt wohl, alter Freund. Macht Euch meinetwegen keine Sorgen.«
»Lebt wohl, Lord Heryst. Es war mir eine Ehre, Euch zu dienen.«
Heryst stand auf und sah sich im Saal um. Die Karron nahmen den Turm von unten nach oben auseinander. Arabelle organisierte, was sie an Verteidigung noch aufbieten konnten.
Die Wachen auf dem Tisch beobachteten besorgt die Kaltraum-Magier. Der ganze Tisch wackelte.
Die Magier, die allesamt saßen, wurden durchgeschüttelt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie die Konzentration verloren.
»Arabelle!«, rief Heryst. Der Saal bebte heftig. »Arabelle!«
Sie erteilte noch einige Befehle, dann rannte sie zu ihm. »Macht Euch bereit aufzubrechen.«
»Wohin?«, fragte er.
Sie deutete nach oben. »Das wisst Ihr doch. Ich habe Kayvel zugehört, und wir stimmen ihm zu. Wir können die Feinde lange genug abhalten.«
Wieder erfolgten einige heftige Stöße. Der ganze Turm wankte leicht.
»Arabelle, sie werden nicht hier heraufkommen. Sie wollen den Turm einreißen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Wir werden sie ablenken. Ihr nehmt die Magier mit.«
Das Geräusch fallender Steine hallte herauf. Ein Dachbalken brach und krachte auf den Boden. Seine Leute flohen erschrocken. Er landete mitten auf dem Tisch und zerquetschte zwei Wachen.
»Kaltraum fällt zusammen!«, rief ein Magier. »Wir haben keine Verteidigung mehr.«
Arabelle schüttelte Heryst. »Es muss jetzt sein, Mylord. Die Fenster sind offen, Ihr könnt den Spruch wirken.«
»Nein.«
»Das Kolleg muss überleben. Widersprecht mir nicht.«
Heryst blickte an ihr vorbei zu den anderen, die ihn anstarrten. Alle hatten sich Arabelle angeschlossen.
Der erste Seelenfresser erschien am Fenster und spähte herein, um sich zu vergewissern, in welcher Verfassung die Lysternier waren. Drunten schlugen die Karron große Löcher in den Turm. Der Fußboden gab langsam nach, oben knarrten die Balken.
»Fliegt gut und sicher«, sagte sie.
Mit Tränen in den Augen nickte Heryst dankbar und
voller Bewunderung. Arabelle wandte sich sofort an die Verteidiger. »Auf eure Posten, los!«
Der Seelenfresser wich zurück, als der Turm ein wenig kippte. Balken brachen und stürzten herab. Heryst rannte zu seinen Magiern auf dem Tisch.
»Zu mir her, meine Magier. Schattenschwingen, und fliegt.«
Sieben. Sieben Magier. Zwei mehr, als aus Dordover geflohen waren. Als der Spruch wirkte und die Flügel auf seinem
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