Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
ich mir sicher. Ich entzündete ein weiteres Streichholz und sah mir das Schlüsselloch an; dann brach ich das Schloss mit meinen Werkzeugen auf. Ich öffnete die Tür, tastete auf der Rückseite herum und fand keine Öffnung. Das hier war nicht die Tür, durch die ich hereingekommen war, obwohl sie von einer Seite identisch damit war. Sogar die unregelmäßige Form der Steinwände, die auf sie zuführten, sah wie im anderen Gang aus. Das hier war das andere Ende der Falle. Ich entzündete noch ein Streichholz – nun hatte ich nur noch sieben übrig –, und dort, auf dem Boden vor mir, lag das Stemmeisen, und dahinter, auf die Seite gekippt, die kleine Messinglampe.
Natürlich , dachte ich. Ich gehe einfach durch die Tür, hole mein Stemmeisen und meine Lampe, die Tür fällt hinter mir zu, und ich bin für immer gefangen. Wohl kaum! Aber ich wollte die Lampe unbedingt zurückhaben. So hielt ich die Tür mit dem Fuß auf – sie war schwer und schnitt in die Haut ein –, während ich mir die Tunika über den Kopf streifte und sie fest unter die Tür klemmte. Dann zog ich auch noch mein Unterhemd aus und ließ es zusammengeknüllt als Puffer am Türpfosten zurück, nur für den Fall. Dann eilte ich halbnackt und zitternd in die Falle, sammelte meine verlorenen Besitztümer ein (keine Spur von meinem Schuh) und hastete wieder nach draußen. In Sicherheit.
Ein Teil des Öls war aus der Lampe herausgelaufen, aber es war noch reichlich übrig. Ich zündete die Lampe an und wanderte durch die Gänge. Ich hatte bisher nur mit den Fingerspitzen gesehen. Es war kein großes Labyrinth, eigentlich nicht groß genug, um sich darin zu verlaufen. Ich dachte an den Tempel der Quellgöttin, bei dem wir an der Bergflanke Halt gemacht hatten. Es war ein kleiner, einer niederen Gottheit geweihter Schrein gewesen, und dieses Labyrinth war nicht viel größer als der Tempel, vielleicht doppelt oder dreimal so groß. Und außerdem schien es hier keinen Tempel zu geben, zumindest keinen, wie ich ihn je gesehen hatte. Es gab keinen Naos und damit natürlich auch keinen Pronaos, keinen Altar, keine Statuen von Göttern oder Anbetenden. Vor allem aber gab es hier keinen Opisthodomos – keine Schatzkammer, um kostbare Weihegaben zu verwahren. Stattdessen gab es dieses Labyrinth aus Gängen, die aus der Felsklippe herausgehauen waren.
Ich hätte geglaubt, dass der Magus sich hatte täuschen lassen, wenn eines nicht gewesen wäre. Auf der Rückseite des Labyrinths, an der Stelle, die am weitesten von den Eingangstüren entfernt lag, gab es einen breiteren Gang, der sorgfältiger behauen war als die anderen. Sein Boden war geneigt, und eine Seite bildete den tiefsten Punkt des Labyrinths. Das Wasser, das dort noch stand, war mehrere Zoll tief, aber nicht tief genug, die Knochen zu bedecken, die sich im Laufe der Jahre dort abgelagert hatten und nicht gestört worden waren, als der Aracthus abgelaufen war.
Dort lagen Schädel, dünn wie Eierschalen ausgewaschen, längere Knochen wie etwa vom Oberschenkel und kleinere, gebogene Rippen, die mit einem Ende aus dem dunklen Wasser hervorstanden. Wie lange , fragte ich mich, dauert es, bis Knochen sich auflösen? Fünfzig Jahre? Hundert? Wie lange waren diese Knochen schon hier, wie viele waren vor ihnen verschwunden? Ich zog die Finger langsam durchs Wasser und erschauerte angesichts der Kälte. Wie konnten so viele Leute auf der Suche hierhergekommen sein, ohne Aufzeichnungen zu hinterlassen? Wie konnte Hamiathes’ Gabe verschollen geblieben sein, wenn zahlreiche Menschen gewusst hatten, dass sie hier nach ihr suchen mussten? Das Licht der Lampe wurde vom Wasser reflektiert, verbarg einige Gebeine und enthüllte weitere kleine Knochen, die noch in Form einer Hand angeordnet waren. Ich trat zurück und ließ die Wasseroberfläche im Dunkeln. Ich kehrte um, um jeden Gang einzeln nach einer Öffnung abzusuchen, die mir vielleicht entgangen war.
Es gab keine, aber als ich mit meiner Lampe dort vorüberkam, wo ich bisher nur im Dunkeln gewesen war, fiel mir die Fülle an hephestischem Glas auf. Obsidian-Adern verliefen diagonal an mir vorbei, drei Zoll breit und zwölf Fuß lang. Es gab auch Klumpen von zwei oder gar drei Fuß Durchmesser. Sie waren vollkommen schwarz und spiegelten doch zugleich die verschiedenen Farben meines Lampenlichts wider. Sie glichen so sehr Fenstern in den Steinwänden, dass ich meine Hand ans Glas legte, um meine Augen vor den Spiegelungen zu beschirmen, und
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