Die Leibwächterin (German Edition)
vor Einbruch der Dunkelheit auf Beutezug gegangen. Onkel Jari, der am sichersten auf den Beinen war, musste sich über dem Eingang der Höhle postieren. Wenn der Luchs aus seinem Versteck kam, sollte Jari herunterspringen und ihm den Rückweg abschneiden.
Gegen drei Uhr in der Nacht kam das Tier endlich zum Vorschein. Es war ein mageres, kleines Weibchen, bei dessen Anblick mein Onkel zu zittern begann. Dennoch sprang er von seinem Ausguck herunter. Der Luchs rannte in Panik auf den Waldrand zu, bremste aber ab, als er den nach Schnaps stinkenden Holopainen witterte. Holopainen zielte und traf einen Baumstamm. Der Luchs lief zurück zu seinem Bau, aber vor dem Eingang stand Onkel Jari und sah ihm geradewegs in die Augen.
«Ich konnte nicht abdrücken, obwohl ich mit dem Gewehr ganz sicher getroffen hätte. Es war ein so schönes Geschöpf. Kauppinen brüllte und fluchte, und Holopainen schoss wieder daneben. Dann traf Kauppinen das Tier in die Hüfte. Es versuchte zu fliehen, brach aber zu Hakkarainens Füßen zusammen. Er gab ihm dann den Gnadenschuss.»
Die anderen Männer hatten sich darüber gestritten, wessen Frau das Luchsfell bekommen sollte, und das Tier nach altem Brauch mit den Läufen an einen dicken Ast gebunden, um es im Triumphzug nach Hause zu tragen. Onkel Jari merkte, dass er seinen Kompass verloren hatte, und blieb zurück, um ihn zu suchen.
«Ich wollte mich nicht mit den anderen bei Kauppinen zur Feier des Tages besaufen. Ich kam mir vor wie ein Mörder und bereute es, dass ich bei der Hatz mitgemacht hatte. Vor dem Eingang zum Bau fand ich den Kompass, und als ich mich danach bückte, hörte ich das kläglichste Geräusch der Welt. Ein Junges spähte aus der Höhle und machte ‹Miu›. Es vermisste seine Mutter. Wir Halunken hatten doppelt gegen das Jagdgesetz verstoßen, indem wir ein Weibchen erlegt hatten, das ein Junges hatte. Die sind ja zu jeder Jahreszeit geschützt.»
An dieser Stelle der Erzählung bebte Onkel Jaris Stimme jedes Mal. Das Jagdgesetz war ihm nicht so wichtig, doch er hatte das Gefühl, sich an den Luchsen versündigt zu haben.
«Kauppinen hätte das Junge abgeknallt, wenn er es gesehen hätte, und allein im Wald wäre es auch umgekommen. Das arme Ding konnte ja noch nicht jagen. Es war scheu und flink und schlüpfte zurück in den Bau, aber ich bin ihm nachgekrochen und habe es schließlich erwischt, nachdem es mir fast die Nase abgebissen hätte. Ich habe es in meinen Rucksack gesteckt, ein kleines Luftloch offen gelassen und gehofft, dass es nicht allzu sehr schreien und zappeln würde. Auf dem Heimweg habe ich überlegt, was ich ihm zu fressen geben könnte.»
«Und am nächsten Morgen wurde ich davon wach, dass der Luchs Jagd auf meine Zehen machte», hatte ich an dieser Stelle zu ergänzen. «Seitdem waren Frida und ich die besten Freundinnen.»
Ich sah Anita vor mir, wie sie über den Luchsmantel strich. Es war mir keine andere Wahl geblieben, als zu kündigen, um Fridas willen. Ich trug mein Gepäck ins Haus und tastete nach dem Lichtschalter. Er befand sich neben der Tür, wie ich es vermutet hatte. Im elektrischen Licht wirkte der Raum fremd. Ich entdeckte neue Geräte: Kühlschrank, Mikrowelle, Kaffeemaschine und sogar einen Fernseher. Nachdem ich den Schlagbaum geschlossen hatte, ging ich schwimmen. Das Seewasser war eisig, sogar die Spirale, die ich mir hatte einsetzen lassen, wurde kalt. Das Wasser machte mich hellwach und aufmerksam, ich hörte und roch die Dunkelheit wie als Kind. Damals hatte ich Frida um ihre Fähigkeit beneidet, im Dunkeln zu sehen. Als ich zum ersten Mal ein Infrarotfernglas ausprobiert hatte, im Trainingskeller der Akademie in Queens, hatte ich mich wie eine Raubkatze gefühlt.
Es würde mir guttun, mich an die Dunkelheit zu gewöhnen und meine Wachsamkeit zu steigern, denn wie sich in Moskau gezeigt hatte, war ich nicht mehr in Bestform. Hoffentlich hatte Hakkarainen wenigstens eine der alten Öllampen im Haus gelassen. Ihr Licht war anheimelnder als das der Glühbirne. Immerhin war der Stromanschluss insofern nützlich, als ich erstens meinen Laptop nicht im Auto aufzuladen brauchte und zweitens einen einfachen Bewegungsmelder am Haus anbringen konnte. Ein Profi würde ihn zwar sofort entdecken, aber gewöhnliche Einbrecher würde er fernhalten. Zu Fridas Zeiten waren solche Vorsichtsmaßnahmen überflüssig gewesen; der Luchs hatte sogar den Dieb bemerkt, der im Ruderboot um die Landspitze gekommen war, um Onkel Jaris
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