Die Leibwächterin (German Edition)
plötzlich aufmerksam. Anfangs schien es nur eine Heidelandschaft in der Dämmerung zu zeigen, aber bei genauerem Hinsehen entdeckte ich am Horizont einen Luchs. Ich vergrößerte das Bild, doch dabei wurde die Gestalt grobkörnig und löste sich auf. Auf dem nächsten Foto waren nur Vögel.
«Habt ihr auf Ösel einen Luchs gesehen?»
«Bei einem Abendspaziergang ist in der Ferne einer vorbeigelaufen. Tiku wollte mir nicht glauben, dass ich wirklich einen Luchs gesehen hatte, er sagte, es sei nur ein Hund oder ein großer Fuchs. Du meinst also auch, dass das Tier auf dem Foto ein Luchs ist?»
«Mit Luchsen kenne ich mich aus.» Die Sehnsucht packte mich, einen Moment lang schien Frida bei mir zu sein. «Tikus Fotos sind gelöscht. Jetzt erledigen wir den Papierkram. Als Erstes formulieren wir einen klaren Auftrag und setzen einen Arbeitsvertrag auf, damit ich etwas in der Hand habe, falls es juristische Schwierigkeiten gibt. Und dann hätte ich gern eine detaillierte Liste darüber, wann und wie du belästigt worden bist. Hast du dir Notizen über die Vorfälle gemacht?»
Helena lachte auf, aber diesmal klang ihr Lachen nicht perlend, sondern verbittert.
«Ich sitze seit Jahren im Vorstand des Verbandes der Schutzhäuser, aber wenn man selbst belästigt wird, ist es gar nicht so einfach, so zu handeln, wie man es anderen Opfern geraten hat. Aber warte mal, ich sehe in meinem PDA nach. Der Terminkalender hilft mir bestimmt, mich zu erinnern.»
Ich holte meinen Laptop aus dem Rucksack. Schon am Vorabend hatte ich einen Folder für Helena Lehmusvuo angelegt, nun schrieb ich die Vorfälle auf, die sie erwähnte. Jemand, der nicht so viel Erfahrung besaß wie ich, hätte vielleicht behauptet, dass Helena sich all das nur einbildete: Den Rosmarintopf hatte der Wind umgeweht, die Post hatte der Nachbar an die Tür gebracht, aus purer Freundlichkeit, weil es an dem fraglichen Morgen geregnet hatte, und so weiter. Aber aus den scheinbar zusammenhanglosen kleinen Vorfällen entstand ein Gesamtbild, das Helena signalisieren sollte, dass sie unter Beobachtung stand. Ich musste an David Stahl denken, der im Dunkel der Nacht bei meinem Ferienhaus herumgeschlichen war. Es war purer Zufall gewesen, dass ich ihn entdeckt hatte.
Ich erstellte einen Kostenvoranschlag für meine Dienstleistungen und für die Überwachungsgeräte. Die Renovierung wollte ich gleich am Sonntagabend planen.
«Die Wohnung ist überschaubarer, wenn nicht alles auf dem Fußboden herumliegt. Die Bücher- und Plattenregale kann ich jetzt gleich zusammenbauen, wenn es dich nicht stört. Und in der oberen Etage war ich überhaupt noch nicht. Reiska muss doch sein Quartier in Augenschein nehmen.»
«Wieso heißt der gute Mann eigentlich Reiska? Von welchem Namen ist das abgeleitet, von Reijo?»
«Genau. Reijo Juhani Räsänen, ein gediegener finnischer Name. Und in Kaavi gibt es so viele Räsänens, dass einer mehr nicht auffällt.»
Ich ging ins Obergeschoss. Die schmale Diele dort war leer, bis auf eine große Weltkarte an der Wand über der Treppe. In dem Schlafzimmer, dessen Fenster zur Straße ging, stand nur ein einfaches Bett mit Matratze und Kissen, aber ohne Decke und Bettwäsche. Gut genug für Reiska. Er konnte im Recycling-Zentrum das nötige Material besorgen und sich einen Tisch zimmern. Aus Helenas Schlafzimmer blickte man in den Garten. Hier hingen immerhin außer der Jalousie auch Gardinen. Das ein Meter zwanzig breite Bett war nur flüchtig gemacht. Auf dem Fußboden lagen Landkarten, Ordner und Chinapantoffeln in verschiedenen Farben. In die Kleiderschränke schaute ich nicht, dazu würde ich später noch Gelegenheit haben. Ich erinnerte mich, dass Helena Lehmusvuo von der Boulevardpresse kritisiert worden war, weil sie bereits sechs Jahre nacheinander im selben schwarzen Kleid zur Nationaltagsfeier im Präsidentenpalais erschienen war, das obendrein aus einem Secondhandladen stammte. Helena Lehmusvuo ist nicht bereit, finnische Modeschöpfer zu unterstützen, hatten die Reporter säuerlich angemerkt.
Würde ein etwa zwei Meter großer Mann auf den Gartenzaun klettern, befände er sich auf gleicher Höhe mit Helenas Schlafzimmerfenster. Und wenn derjenige, der sie verfolgte, seine Hausaufgaben gemacht hatte, wusste er, wo ihr Bett stand. Es wäre ein Kinderspiel, sie im Schlaf zu erschießen oder einen Sprengsatz durch das Fenster zu werfen. Die Menschen machten sich nicht klar, wie einfach es war, sie umzubringen. Sie wollten nicht
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