Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
an die Stimme erinnern. Hell und hoch, fast so wie Eunuchen nach Herrn Schweitzers Dafürhalten sprechen mußten. Persönlich kannte er keinen. Kastration war aus der Mode gekommen. Instinktiv griff er sich ans Gemächt.
Sein geplanter Tagesablauf mußte umgekrempelt werden. Was konnte er bis Montag schon groß tun? Zuallererst mußte ein starker Kaffee her.
Dann schrieb er auf einen Zettel die Worte Möbelbauer und Joshua Silbermann. Er überlegte. So wie die Dinge lagen, würde er um eine eingehendere Beschäftigung mit der Nazizeit nicht umhinkommen.
Jüd. Gemeinde Frankfurt, Literatur, Jüd. Museum (Mo.)
fügte er den Notizen hinzu. Nach einigem Zögern ergänzte er die Liste noch um
Bohnenstange
– so nannte er den Mann in der Mitte mangels Identität. Dahinter malte er ein verschnörkeltes Fragezeichen und unterstrich Bohnenstange doppelt.
Wenn ihm das Gesicht bekannt vorkam, dann vielleicht auch anderen. Der jüngeren Generation offenbar nicht, denn sonst hätten Laura und Esther ihn ja identifiziert. Wenn man mal davon ausging, daß Bohnenstange auf dem Foto so um die dreißig sein mochte, lag seine Blütezeit heute natürlich schon längst hinter ihm. Wahrscheinlich war er aber bereits tot, wenn er nicht sogar schon im Krieg gefallen war. Auch war es nur den wenigsten vergönnt, ein so biblisches Alter wie Esthers Großeltern und -tante zu erreichen. An wen konnte er sich also wenden? Felix Melibocus vielleicht, dem Herausgeber des Sachsehäuser Käsblättches. Herr Schweitzer nickte mit dem Kopf. Ja genau, dem statte ich heute mal einen Besuch ab. Er liebte zwar die Untätigkeit, haßte es aber, Dinge auf die lange Bank zu schieben.
Und dann erschien Maria auf der Bildfläche, und sie frühstückten gemeinsam.
Die Büroräume der Stadtteilzeitung waren noch geschlossen, als Herr Schweitzer dort eintraf. So fuhr er mit dem Fahrrad noch ein wenig in der Gegend herum.
„Oh, der Herr Schweitzer. Was verschafft mir die Ehre deiner Visite?“
Er fiel mit der Tür ins Haus: „Ein Foto.“ Der Herausgeber gehörte nicht seinem inneren Freundeskreis an, so hatte sich Herr Schweitzer für diese Vorgehensweise entschlossen. Groß zu verlieren gab’s ohnehin nichts. Äußerlich verbanden beide ein paar Ähnlichkeiten. So zum Beispiel die stets zerzausten Haare, ein abscheulicher Modegeschmack, und auch das Alter war nahezu identisch. Zudem verstanden sie sich auf die Kunst des Lebens, minimaler Arbeitseinsatz mit größtmöglichem Lustgewinn. Allerdings war Felix Melibocus nicht gerade von der Natur bevorteilt. Eine Knollennase zierte sein pausbäckiges Gesicht, das von einem Kassengestell noch zusätzlich verunstaltet wurde. Sein Kind, das Sachsehäuser Käsblättche, erfreute sich bei der Bevölkerung großer Beliebtheit. Kinder hatte er ebenso wie Herr Schweitzer keine.
Er schob ihm das Foto über den Schreibtisch. „Der Typ in der Mitte.“
Melibocus rückte die Brille zurecht. „Claude Heidenbrück“, sagte er nach kurzer Zeit teils indifferent, teils mit einer gewissen Abscheu. „Kein Zweifel. Als ich noch Ambitionen hegte, wollte ich mal einen Artikel über ihn schreiben. Aber ... es kommt halt immer anders als man denkt.“ Er blickte angewidert nach oben. „Du verstehst.“
Herr Schweitzer verstand. Bildete er sich zumindest ein. Allerdings fuchste es ihn mehr, als daß er der Andeutung seines Gegenübers Beachtung schenkte. Logo, bin ich dämlich, schimpfte er mit sich, Claude Heidenbrück, ehemaliger Landtagsabgeordneter und ein großes Tier in der Lebensmittelbranche. Gehörte zweifelsohne zu den Spitzen der Gesellschaft. Und ich zermartere mir hier das Hirn, womöglich frage ich mich demnächst, wer mich so blöd aus dem Spiegel angrinst. Das war hart, so zynisch ging er mit sich normalerweise nicht ins Gericht.
Doch Melibocus, als hätte er seine Gedanken gelesen, sprach mit einer Art milden Nachsicht: „Kann doch jedem mal passieren. Weißt du, wie’s mir letztens erging?“
„Nein.“
„Ich erhebe mich vom Sofa, gehe in die Küche, und als ich dort stehe, weiß ich nicht mehr, was ich dort wollte. Keine zwanzig Sekunden später war das. Peinlich, peinlich.“
Natürlich hätte Herr Schweitzer jetzt erwidern können, daß das bei ihm genau so ungefähr jeden zweiten Tag vorkommt. Doch war sein Stimmungsbarometer ob Claude Heidenbrück eh schon unter dem Gefrierpunkt. Jetzt endlich ergab auch die penetrante Fistelstimme aus seinem Traum einen Sinn. Sie gehörte tatsächlich
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