Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Telefonat kam Herr Schweitzer in die Küche zurück. „Nein, nichts Neues. Leider. Melibocus meinte zwar, daß er noch andere Quellen anzapften könnte, die sich ihm im Laufe der Jahre erschlossen haben, betonte jedoch, wir sollten uns keinen allzu großen Illusionen hingeben.“
Esther seufzte schweren Herzens. „Tja, da kann man wohl nichts machen.“
So sehr dies Herr Schweitzer auch bedauerte, war er derselben Ansicht. Obwohl sich da noch eine Option in ihm regte, die ihm aber dermaßen gegen den Strich ging, daß er sie hastig und mit aller Gewalt weit von sich schob. Nein, das bring ich nicht.
Esther packte sämtliche Unterlagen in den Schuhkarton.
„Kann ich das, was mir fehlt, noch schnell kopieren?“ fragte er. Als er Esthers erstaunten Blick bemerkte, fügte er hinzu: „Nur, falls sich doch noch was tut. Du bist dann ja in Berlin.“
„Gut.“
Am Abend begleitete Herr Schweitzer den Besuch zum Hauptbahnhof.
Die Angelegenheit ließ ihm keine Ruhe. Tagsüber war es nicht so schlimm, aber des nächtens hinderten ihn die Gedanken am Einschlafen. Das ging so etwa zwei Wochen, und Herr Schweitzer wurde immer unzufriedener. Auch Melibocus hatte nichts weiter beizutragen gehabt. Alles drohte im Sande zu verlaufen. Maria hatte sich schon, wenngleich auch in lustige Anspielungen gehüllt, über seine Zerstreutheit beschwert.
Da erwachte Herr Schweitzer eines schönen Donnerstags – der Herbst hatte endgültig Einzug gehalten – und war von einem ungeheuren detektivischen Drang befeuert. Er war auch sogleich hellwach und schwor sich, die Sache zu Ende zu bringen, koste es, was es wolle.
Dieser letzte Gedankensplitter – koste es, was es wolle – sollte noch Dimensionen erreichen, die ihn veranlassen oder zwingen sollten, über gleich mehrere seiner Schatten zu springen.
Doch zurück zu besagtem Donnerstag. Herr Schweitzer entfloh geradezu seiner geheiligten Bettstatt und trank einen dermaßen starken Kaffee, daß der Löffel sprichwörtlich darin stak. Alsdann ging er Straßenbahn fahren. Das tat er aus Gewohnheit immer dann, wenn ihn etwas bedrückte, oder es etwelche Probleme zu überdenken galt. Das Geratter der Gleise war stets Balsam und half ihm beim Nachdenken. Wie immer wählte er hierfür seine alte Linie 14 nach Neu-Isenburg, die bis zur Dienstquittierung seine Hausstrecke war. Sie führte von Bornheim über den Zoo, die Ignatz-Bubis-Brücke, den Lokal- sowie Südbahnhof, der Louisa und Oberschweinstiege, letztere ein beliebtes Ausflugsziel am idyllischen Jacobi-Weiher mitten im Stadtwald, nach Neu-Isenburg, jenem Marktflecken, der 1699 als Exilantenstadt von Hugenotten gegründet wurde, und deren Namensgeber der Landesherr Graf Philipp zu Ysenburg war. Außerhalb des Berufsverkehrs war die 14 nur spärlich von Passagieren frequentiert, und wenn nicht gerade eine Schulklasse auf Ausflug einstieg, war es ein recht gemütliches Reisen. Für andere Zeitgenossen mag eine Reise erst dann als solche gelten, wenn man mindestens einen Zug bestieg oder mit dem Auto die Bundeslandesgrenze passierte. Nicht jedoch für Herrn Schweitzer, den man in mancherlei Hinsicht getrost ins neunzehnte Jahrhundert hätte pflanzen können, ohne daß es großartig Scherereien gegeben hätte.
Wir sparen uns jetzt seine Überlegungen und Gedanken, denn sie wurden an anderer Stelle schon ausreichend geschildert. Und doch hatte ein Aspekt dergestalt Oberhand gewonnen, daß schon zu befürchten stand, Herr Schweitzer würde sich allzu sehr darauf versteifen. Trotz aller nur erdenklichen Folgerungen, die man aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen ableiten mochte, so blieben doch zwei Punkte, die einer besonderen Behandlung bedurften. Zum einen war es das vehemente Dafüreintreten der Großtante, Esthers Wunsch, nach Israel zu ziehen, zu unterbinden. Zum anderen war es die unumstößliche Tatsache, daß sie ja selbst ganz offensichtlich Nachforschungen angestellt hatte, in deren Verlauf sie auf etwas gestoßen sein mußte, das so schwerwiegend war, daß sie sich zur Erziehung ihrer Großnichte nach Deutschland bemüht hatte. In ein Land, das den meisten Juden nach dem Krieg verhaßt war.
Dies bedachte Herr Schweitzer nun ausführlichst, und als die Straßenbahn zum zweiten Mal die Feuerwache passierte, stieg er an der nächsten Station aus. Er hatte einen für seine Verhältnisse weitreichenden Entschluß gefaßt, dessen Konsequenzen ihn in Bälde in das größte Abenteuer seines doch so abenteuerreichen Lebens
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