Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
Telefonzelle kurz vor neun Mrs. S. anrief.

    Sie war gut zehn Minuten zu früh dran. Langsam und mit klopfendem Herzen überquerte sie die Broad und ging die St. Giles’ hinauf, vorbei am Balliol College, vorbei am St. John’s College, vorbei am Pub Lamb and Flag. Als sie an der Ampel kurz vor der Keble Road warten mußte, sah sie rasch nach, ob sie den Brief auch bei sich hatte.
    In diesem Moment hätte sie nicht sagen können, was ihr wichtiger war — dieser Brief oder die Entdeckung, die sie bei der Heimkehr ihres Mannes am Sonntag gemacht hatte. Die beigefarbene Sommerstrickjacke (neu von Marks & Spencer) hatte die Flecken auf Hemd und Hose halbwegs verdeckt, aber nur hinten. Vorn war auch sie blutgetränkt. Später dann hatte sie die Sohlen seiner Turnschuhe gesehen...

    Das grüne Ampelmännchen blinkte, und Mrs. Brenda Brooks ging rasch über die Straße und betrat das Old Parsonage Hotel in der Banbury Road Nummer 1.

20

    Wer nah beim Friedhof wohnt, kann nicht um jeden weinen.
    (Russisches Sprichwort)

    Das Old Parsonage Hotel aus dem Jahre 1660 steht — zwischen Keble College im Osten und Somerville College im Westen — etwas nördlich von der Stelle, an der sich die breite, platanenbestandene St. Giles’ gabelt und links zur Woodstock, rechts zur Banbury Road wird. Auch nach der gründlichen Renovierung vor einigen Jahren, die so moderne Errungenschaften wie Zentralheizung und Bad und WC für jedes Zimmer mit sich gebracht hat, ist man bemüht, die Geborgenheit und den Charme vergangener Zeiten nach Möglichkeit zu bewahren.
    Mit Erfolg, wie Julia Stevens fand.
    Auch Brenda Brooks war dieser Meinung, als sie sich auf einer der gepolsterten Wandbänke an einem blankpolierten Mahagonitischchen in der Parsonage Bar niederließ. Auf dem Boden lag ein hochfloriger avocadogrüner Teppich mit einem geschmackvollen Muster.
    «Du lieber Himmel», sagte Brenda mit ihrem weichen Oxfordakzent und schüttelte sacht den grauen, dauergewellten Kopf.
    Julia deutete diese Reaktion sehr richtig als Zustimmung und folgte Brendas Blick auf die unten gardenien-, oben magnolienfarbenen Wände, an denen dicht an dicht Bilder, Drucke und Karikaturen hingen.
    «Du lieber Himmel», wiederholte Brenda, in deren Vokabular stärkere Ausdrücke des Entzückens offenbar nicht vorgesehen waren.
    «Was möchten Sie trinken?»
    «Och... also ich... Ein Kaffee wär schön.»
    «Nein, Brenda, heute soll es mal was Stärkeres sein. Ich bestehe darauf!»
    Mit einem Gin Tonic (kalorienreduziert) vor sich, studierten die Damen die Speisekarte — Julia in der Gewißheit, daß einem hier kulinarisch Phantasievolles geboten wurde, Brenda einigermaßen ratlos, weil so exotische Dinge wie Bagel, Couscous, Hummus, Linguini und Mozzarella noch nicht bis in ihre Küche vorgedrungen waren. Vor zehn Jahren wäre angesichts so ausgefallener Genüsse vielleicht ein wenig Mitleid mit einem Ehemann in ihr aufgekommen, der womöglich einigen Grund hatte, Klage über die ewigen Bohnen in Tomatensoße, Ölsardinen und Spaghetti zu führen, aber diese Zeiten waren vorbei.
    «Wofür haben Sie sich entschieden?»
    Brenda schüttelte den Kopf. «So leid mir’s tut, ich krieg nichts runter. Ich hab’s... Ich hab’s einfach dicke, Mrs. Stevens.»
    Julia hatte dafür viel Verständnis. Sie dachte an gestern, als sie in diesem Raum auf einem der Barhocker gesessen und es auch «dicke gehabt» hatte. Kürzer und treffender konnte man es kaum ausdrücken.
    Eine halbe Stunde später war Julia mit ihrem pochierten Lachs in Limonenbutter, Salat und neuen Kartoffeln fertig und über die neuesten Taten von Ted Brooks informiert. Daß der Mann Brenda mit seinen verbalen Attacken das Herz gebrochen hatte, wußte sie schon lange. Daß bei einer seiner physischen Attacken Brendas Hand gebrochen worden war, erfuhr sie erst jetzt.
    «Wissen Sie, daß ich eine ganz schlechte Person bin?» flüsterte Brenda. «In dem Moment habe ich ihm den Tod gewünscht. Können Sie sich so was vorstellen?»
    Die meisten Leute an deiner Stelle hätten es nicht bei dem Wunsch belassen, dachte Julia, aber sie sagte es nicht laut. Und der Gedanke, daß ein so brutaler Mensch das Leben dieser sanften, liebenswerten Frau zerstört hatte, machte sie sehr zornig, schenkte ihr aber auch eine ganz erstaunliche Ruhe.
    Erwuchs ihr vielleicht aus dem Wissen, daß sie sich das Geheimnis eines anderen Menschen anhören konnte, ohne ihr eigenes auszuplaudern, zusätzliche Kraft? Sie hatte keine Zeit, an

Weitere Kostenlose Bücher