Die Leiche am Fluß
zumindest darüber nachzudenken, ob sie das Kind nicht behalten wolle.
Sie war froh, daß sie ihr einziges anständiges Sommerkleid angezogen hatte und darunter BH und Slip trug. Auch die Ringe hatte sie aus der Nase genommen. Gewiß, sie hatte noch die rotgefärbten Strähnen im Haar, aber irgendwie fühlte sie sich ganz anders, als hätte sie einen neuen Weg eingeschlagen. Es hatte etwas damit zu tun, daß sie wieder Kontakt zu ihrer Mutter hatte...
Der Zug um 15.09Uhr von New Street, der laut Fahrplan um 16.31 Uhr in Oxford eintreffen sollte, war fast pünktlich. Eine halbe Stunde später war Ellie wieder zu Hause und las den Brief in dem weißen Umschlag, den ein Bote an ihre weißlackierte Tür im dritten Stock gelehnt hatte.
Hoffe, daß alles gutgegangen ist. Willst Du es Dir nicht doch noch mal überlegen? Wenn auch nur die geringste Chance besteht, daß es meins ist, heirate ich Dich. Sei nicht böse, daß ich Dich schon wieder belämmert habe.
Viele liebe Küsse
Ashley.
Ellie Smith steckte den Schlüssel ins Schloß und überlegte, ob sie Ashley Davies vielleicht doch verkannt hatte.
(II)
«Danke, daß Sie gekommen sind», sagte Phillotson ernst.
Lewis suchte nach einer passenden Antwort, aber ihm fiel nichts ein.
«Geht es Morse besser?»
«Soll morgen rauskommen.»
«Wird er den Fall weiter bearbeiten können?»
«Das weiß ich nicht, Sir. Er macht ja doch, was er will.»
«Da haben Sie recht.»
Im Gehen warf Lewis noch einen Blick auf die ausgelegten Kränze, darunter auch ein prachtvolles Gesteck mit weißen Lilien vom Präsidium.
Phillotsons Frau, eine stets bescheidene, unauffällige Person, war mit sechsundvierzig Jahren gestorben. Was blieb von einem so kurzen Leben? Nur der kleine Rosenbusch (Rosa rubrifolia), der im «Garten der Erinnerung» bereits in schöner schwarzer Gartenerde saß und dem die Spender — ihr Mann, Angehörige und Freunde — , die dabei vielleicht ein bißchen auch an Seelenwanderung dachten, gutes Gedeihen und ein langes Leben wünschten.
Hätte Chief Inspector Morse an der Trauerfeier teilgenommen, hätte ihn vermutlich die «scheinheilige Beterei» genervt. Den Choral aber, «Liebe, die mich nie verläßt», hätte er wohl gebilligt und mit seinem nicht ganz reinen Bariton leise mitgesungen.
Doch Morse war nicht unter den siebenunddreißig Trauergästen, die Lewis an diesem Mittwochmittag im Krematorium von Oxford gezählt hatte.
(III)
«Was haben Sie denn nun eigentlich, Morse?»
«Ich bin nur zur Beobachtung hier.»
«Ja, ich weiß. Und was beobachten die bei Ihnen?»
Morse holte tief Luft. «Also zunächst mal die Bronchien. Außerdem haben Leber und Nieren einen Knacks, der Blutdruck ist fast am oberen Anschlag, ein neues Magengeschwür hat sich gemeldet, und jetzt hab ich auch noch eine beginnende Diabetes, weil meine Bauchspeicheldrüse angeblich nicht genug Insulin produziert, um das, was ich gelegentlich an Alkohol konsumiere, zu verarbeiten. Ach ja, und der Cholesterinspiegel ist auch viel zu hoch.»
«Vielleicht hätte ich lieber fragen sollen, was Sie nicht haben.»
Strange rutschte unbehaglich auf dem unbequemen Stuhl in Station 7 des John Radcliffe Hospital in Headington herum, wohin eine halbe Stunde nach Eintreffen des Arztes ein Krankenwagen den protestierenden Morse am Sonntag geschafft hatte.
«Gestern haben sie eine Endoskopie gemacht», fuhr Morse fort.
«Sicher sehr unangenehm. Wo kriegen Sie das hingesteckt?»
«In den Mund, Sir.»
«Ach so. Na, Hauptsache, sie haben nichts gefunden. Meine Frau würde sich ebenfalls sehr freuen, wenn Sie bald wieder auf dem Damm wären...»
«Nett von ihr, aber...»
«Sie haben doch versprochen, beim Women’s Institute in Kidlington einen Vortrag zu halten. Das Interesse ist riesig. Sie hat dieses Jahr den Vorsitz, und das bedeutet ihr sehr viel. Lassen Sie sie bloß nicht hängen.»
«Sie können ihr ausrichten, daß ich auf jeden Fall komme, und wenn’s im Rollstuhl ist.»
«Bestens. Die dunkle Seite des Mordes... Spannender Titel!»
Damit war Morse prompt wieder bei seinem neuesten Fall. «Wenn Sie Lewis sehen, richten Sie ihm doch bitte aus, er soll heute abend mal vorbeikommen. Ich wüßte gern, was sich so tut.»
«Er wollte heute mittag zur Beerdigung von Mrs. Phillotson.»
«Was? Davon hat mir ja keiner was gesagt.»
«Nein, wir... Der Tod ist nun mal kein besonders erfreuliches Thema.»
Um 14.45 Uhr verabschiedete sich Strange, und Morse legte sich nachdenklich
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