Die Leiche am Fluß
zurück. Ein Krankenhaus mochte der passende Ort sein, um sich Gedanken über den Tod zu machen, denn gestorben wurde hier allenthalben; die meisten Menschen beschäftigten sich aber auch hier nicht gern mit diesem Thema. Morse kannte nur einen, der es nicht gescheut hatte. Sein Kollege Max, Pathologe bei der Kriminalpolizei, hatte sich im Gegenteil auf eine makabere Art den Tod fast zum Freund gemacht. Der aber hatte die Zuneigung offenbar nicht erwidert, denn den Pathologen Max gab es nicht mehr.
(IV)
Obwohl das Herbsttrimester erst am Vortag angefangen hatte, wollten offenbar gleich mehrere Schulen die gefürchteten Exkursionen so schnell wie möglich hinter sich bringen. Noch bis 16.05 Uhr hatten sich zwanzig Schulkinder intensiv mit den anthropologischen Ausstellungsstücken in der Oberen Galerie des Pitt Rivers Museum beschäftigt.
Was recht störend war.
Um 16.15 Uhr aber waren die Räume fast und um 16.20 Uhr völlig leer. Der junge Mann stand vor der Sammlung, die Captain Cook im Jahre 1772 von seiner zweiten Reise in den Südpazifik mitgebracht hatte, und beobachtete den braungebrannten Aufseher mit dem gelichteten Haar, der die Obere Galerie nach liegengebliebenen Taschen, Schulranzen und Zeichenblöcken absuchte und dabei kurz die Glasdeckel der abgeschlossenen Schaukästen anhob wie ein potentieller Autodieb, der auf einem Parkplatz prüft, ob irgendwo eine Wagentür unverschlossen ist.
Der junge Mann ließ zwei Minuten verstreichen und folgte dann der Route des Aufsehers. An einer bestimmten Stelle blieb er stehen und besah sich die in Schaukasten Nr. 52 ausgestellte Kollektion der verschiedenartigsten Messer aus aller Herren Länder.
Rasch und mit klopfendem Herzen nahm er einen Meißel aus seiner Jackentasche und schob die frischgeschärfte Kante zwischen den Metallrand des Schaukastendeckels und den dunklen Holzrahmen.
Es ging ganz leicht. Kein Splittern, kein Quietschen, nur ein kurzer Klick. Trotzdem war es ein kritischer Moment gewesen, und der junge Mann sah besorgt nach rechts und links, ehe er den Glasdeckel hob und in den Schaukasten griff.
Um 16.29 Uhr ging er durch den Souvenirshop. Fast hätte er noch eine Ansichtskarte des fünfzehn Meter hohen Haida-Totempfahls (British Columbia) gekauft, aber die Verkäuferin machte schon Kasse, und er wollte kein Aufsehen erregen. Wie er auf dem Schild am Eingang gelesen hatte, schloß das Pitt Rivers Museum für Ethnologie und Vorgeschichte täglich um 16.30 Uhr.
(V)
Das Interesse an der Aufführung von Was ihr wollt im Shakespeare Theatre war in der Proctor Memorial School erfreulich lebhaft gewesen. Julia Stevens hatte wie immer einunddreißig Karten bestellt. Da dreiundzwanzig Schülerinnen und Schüler (meist aus der fünften und sechsten Klasse), außer ihr noch zwei Lehrer sowie zwei Eltern mitkamen, hatte sie nur drei Karten übrigbehalten. Nachdem sie (wie schon im vergangenen Jahr) Brenda Brooks eine geschenkt hatte, waren es nur noch zwei.
Am Busbahnhof in Stratford verteilten die drei Lehrer den Proviant: ein Brötchen mit Huhn, eins mit Streichkäse, eine Tüte Kartoffelchips, eine Banane, eine Limo. Auf dem Rückweg saßen Mrs. Stevens und Mrs. Brooks nebeneinander ganz vorn im Bus. Erstere hörte sich an, was ihre Schüler über die Leistung von Junker Tobias von Rülp und Junker Christoph von Bleichwang zu sagen hatten, letztere schlief über der neuesten Folge eines Liebesromans in Women’s Weekly ein und wachte erst auf, als der Bus zwei Minuten vor Mitternacht am Carfax Tower hielt — eine Zeit, in der die Stadt eigenartig schön und ein wenig unheimlich wirkte.
TEIL ZWEI
35
In mir wohnt keine Größe,
es sei denn als ein ferner Hauch
von Größe das Wissen des: Ich bin nicht groß.
(Alfred Lord Tennyson, Lancelot and Elaine)
Nachdem Lewis den Notarzt verständigt hatte, ging er ins Badezimmer, wo sich Morse leichenblaß vor der Toilette krümmte. Durch das Erbrochene im Toilettenbecken zogen sich rote Blutspuren.
Für Dr. Paul Roblin hatte es nur eine Entscheidung gegeben: ab ins Krankenhaus!
Eine Stunde später dämmerte Lewis, daß er nun allein eine Mordermittlung am Hals hatte.
Normalerweise hätte ihm diese Erkenntnis einen Heidenschrecken eingejagt. Zum Glück zeichneten sich hier, anders als in früheren Fällen, die er mit Morse zusammen bearbeitet hatte und die häufig voll bizarrer, fast unglaublicher Verwicklungen gesteckt hatten, schon klare Linien ab. An der Identität des Täters konnte laut
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