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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Stimme ihrer Sekretärin Inna, »Wenjamin Borissowitsch fühlt sich nicht gut. Ein
     Journalist ist bei ihm, am besten gehen Sie in den Vorsprechsaal.«
    »Ich komme sofort!« Regina schnappte sich aus dem Kleiderschrank aufs Geratewohl ein paar Sachen, zog einen karierten Schottenrock
     und einen dicken handgestrickten weißen Pullover auf den nackten Körper. Mit bloßen Füßen schlüpfte sie in weiche flache Wildlederschuhe,
     warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und verließ rasch das Arbeitszimmer.
    Wenja war totenblaß. Seine Hände zitterten. Er stand mit offenem Mund in dem engen Gang zwischen den Stuhlreihen und brachte
     kein Wort heraus.
    Neben der Bühne saß ein dunkelhaariger junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem sympathischen, intelligenten Gesicht.
     Regina registrierte flüchtig, daß er überhaupt nicht wie ein Journalist für Popmusik aussah. Keine Ohrringe, keine langen
     Haare, keine auffällige Kleidung. Teure Jeans, ein adretter dunkelblauer Pullover, sauberes, solides Schuhwerk.
    »Guten Tag.« Er stand auf und reichte Regina die Hand. »Georgi Galizyn von der Zeitschrift ›Smart‹.«
    Regina zuckte zusammen, erwiderte aber den Händedruck. Im selben Moment sah sie, daß der junge Mann in der linken Hand einen
     kleinen Recorder hielt.
    »Wenja, was ist los?« Sie trat dicht an ihren Mann heran.
    »Mir ist übel«, preßte er heraus und starrte Regina entsetzt in die Augen.
    »Wir haben uns nur unterhalten«, erklärte Galizyn in entschuldigendem Tonfall. »Wenjamin Borissowitsch hat mich selbst hergebeten.
     Soll ich vielleicht einen Arzt holen?«
    »Wie viele Kassetten haben Sie schon aufgenommen?« fragte Regina rasch.
    »Eine.«
    »Geben Sie sie mir bitte.«
    »Warum?« fragte der Journalist erstaunt. »Es ist nur ein ganz normales Gespräch drauf, wir haben uns über Tobolsk unterhalten.
     Sie können sie gerne abhören.«
    »Sie geben mir jetzt diese Kassette und gehen«, sagte Regina mit höflichem Lächeln.
    »Wie Sie wollen!« Galizyn zuckte die Achseln. »Wenn Sie glauben, Ihr Mann könnte etwas Unpassendes gesagt haben, dann nehmen
     Sie sie.« Er zog die Mikrokassette aus dem Gerät und reichte sie Regina.
    »Seien Sie mir nicht böse, junger Mann«, sagte sie in etwas freundlicherem Ton, nahm die Kassette entgegen und steckte sie
     in ihre Rocktasche. »Wenjamin Borissowitsch ist heute nicht in der Verfassung, um ein Interview zu geben. Ich kenne Ihre Zeitschrift.
     Es ist besser, Sie kommen ein andermal. Wenjamin Borissowitsch wird dann mit Vergnügen Ihre Fragen beantworten. Aber jetzt
     wünsche ich Ihnen alles Gute. Entschuldigen Sie.«
    Galizyn verließ rasch den Saal.
    Die Kassette, die er Regina gegeben hatte, war leer.
    ***
    »Ich war heute bei Wolkow«, sagte Goscha Galizyn, als Lena sich zu ihm ins Auto setzte. »Eine sonderbare Geschichte. Er hatte
     mir einen Interview-Termin in seinemBüro gegeben. Ein todschickes Gebäude, alles funkelt und blitzt, Hausangestellte, Wachleute, aber der Vorsprechsaal sieht
     aus wie in einem heruntergekommenen Pionierhaus. Die Wände mit Hochöfen und Trommeln bemalt, abgeschabte, knarrende Stühle,
     alles schäbig und uralt. Ich habe ihn über seine Kindheit und seine Eltern befragt. Danach über seine Jugend. Er gab müde,
     gelangweilte Antworten. Um ihm etwas einzuheizen, habe ich ihn gefragt, ob er sich erinnert, wie er in seiner Zeit beim Komsomol
     mit einer Journalistengruppe aus Moskau in einer Funktionärsbanja geschwitzt hat, wie er mit ihnen am Ufer des Tobol Wodka
     getrunken und Schaschlik gegrillt hat. Da wird er plötzlich kreidebleich, Schweiß tritt ihm auf die Stirn, seine Hände zittern.
     Er starrt mich mit vorquellenden Augen an und fragt: Wer hat Ihnen das alles erzählt? Ich sage, meine Chefin und gute Freundin,
     Jelena Nikolajewna Poljanskaja. Sie erinnern sich doch sicher an sie. Und da brüllt er auf einmal durchs ganze Haus: Nein!
     Sofort sauste die Sekretärin herbei, dann kam seine Frau angelaufen und verlangte, ich solle die Kassette rausrücken. Ich
     hatte aber zufällig gerade eine neue reingesteckt, die hab ich ihr gegeben und die volle mitgenommen. Willst du mal hören?«
    »Ja«, sagte Lena.
    »Ich hatte eine sehr strenge Mutter, sie war Parteisekretärin in einer Brotfabrik«, sagte eine ausdruckslose Baritonstimme.
     »Sie hat viel von mir gefordert, hat mich gelehrt, stark zu sein. Ich bin von klein auf gewohnt, mich nicht zu

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