Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
es sich, nach den Geräuschen zu urteilen, um Männer handelte.
Sie blieben direkt vor ihrem Kopf stehen. Einer von ihnen beugte sich vor, um den Sitz der Kette zu überprüfen, die an der Manschette um ihren Knöchel befestigt war. Er schien zufrieden. Durch ihr Haar hindurch konnte sie die schweren Stiefel des Mannes sehen. Stiefel mit abgerundeten, verschrammten Spitzen und einer gerissenen Sohle am linken Fuß, die notdürftig geflickt worden war. Die Schuhe des anderen Mannes waren da schon weitaus eleganter. Es handelte sich um Reitstiefel, die sicher ein kleines Vermögen gekostet hatten und auf Hochglanz poliert waren. Angelica konnte fast ihr Antlitz darin erkennen – ein vom Weinen verquollenes, schmutziges Gesicht, das zur Hälfte von ihrem verfilzten Haar bedeckt war.
«Hallo, Angelica», begrüßte sie der Besitzer der eleganten Stiefel. «Schrecklich, dich in einem derart schändlichen Zustand vorzufinden. Dabei bist du doch sonst immer so stolz auf deine Schönheit, nicht wahr, meine Liebe?»
Plötzlich bohrte sich die Spitze einer der Stiefel in ihre Wange. Ihr Herz wurde von eisigem Entsetzen gepackt, und ihr stockte der Atem. Diese Stimme kannte sie bereits ihr ganzes Leben lang. Angelica schaute auf, sah in das Gesicht ihres Stiefbruders und verlor das Bewusstsein.
Semjon konnte nicht schlafen. Er stand auf, schlüpfte aus seinem Nachtgewand und zog sich recht nachlässig wieder an. Aber wer würde ihn in den dunklen Straßen von London schließlich schon sehen? Und selbst wenn ihn jemand sah, es wäre demjenigen sicher völlig egal, ob er nun korrekt gekleidet war oder nicht. Und während er voller Bedacht, niemanden zu wecken, aus dem Haus des Rudels schlich, drehten sich seine Gedanken nur um eine einzige Person – Angelica.
Seine außergewöhnlich großen Schritte führten ihn zunächst auf einen Marktplatz, der sich schon jetzt, kurz vor Sonnenaufgang, mit Menschen füllte. Doch die Händler und die Besucher des Marktes waren viel zu beschäftigt, ihre Stände aufzubauen und mit den Bauern zu feilschen, um ihn zu bemerken. Überall standen zitternde Zugpferde herum und stampften in eintönigem Rhythmus mit ihren riesigen Hufen auf den Boden. Ihre erschöpften Muskeln waren ganz schwer von den mit Wintergemüse beladenen Wagen, die sie über die ausgefahrenen Straßen der Stadt hatten ziehen müssen. Semjon betrachtete ohne jedes Interesse die hochaufgestapelten Berge aus Kohlrabi und Rüben, an denen immer noch Erde klebte. Ein anderer Stand bot riesige Kohlköpfe und immer noch an dicken Stämmen festgewachsenen Rosenkohl feil. Und direkt daneben fanden sich auch Büschel krauser Grünkohlblätter.
Stämmige, in warme Wollschals und Röcke eingepackte Bauersfrauen liefen in Holzschuhen über das Kopfsteinpflaster. Sie waren hier, um Pasteten, Gelee und andere Leckereien zu verkaufen. Nachdem sie ihre Körbe, in denen sie alles mit sich herumtrugen, ausgeleert hatten, arrangierten sie ihre Waren einfach auf dem nackten Boden. Eine besonders gewiefte Bauersfrau hatte in einem merkwürdigen Behältnis, das eigentlich nur von einem Kesselflicker stammen konnte, ein Feuer entzündet. Sie bereitete Tee und Kaffee darauf zu, den die Kunden aus geliehenen Bechern tranken, die sie nach Gebrauch wieder zurückgeben mussten. Die Getränke verkauften sich ausgesprochen gut und schnell.
Trotzdem entschied Semjon sich gegen eines der heißen Getränke, denn die Kundschaft der Frau bestand fast ausschließlich aus extrem verrufen wirkenden Gestalten. Und auch wenn der Tee und der Kaffee den Menschen ausgesprochen gut zu schmecken schienen, so waren Semjon die borstigen und verdreckten Bärte der Männer und die aufgesprungenen Lippen der Frauen doch zu unhygienisch.
Er ging mit hocherhobenem Kopf weiter. Ah, endlich. Ein von einem Metzgerjungen gezogener Rollwagen fuhr an ihm vorbei, an dem herumschwingende Tierhälften befestigt waren. Der Junge hatte auch mit Fett marmorierten Hammel geladen, führte wegen der winterlichen Jahreszeit aber kein Lamm. Semjon konnte kaum widerstehen, sich eines der rohen Fleischstücke zu schnappen. Das war der Wolf in ihm, und er würde sich keineswegs für dieses Verlangen entschuldigen.
Und wenn er nun wirklich etwas von dem rohen Fleisch nahm … was dann? Ungegart durfte er es nicht essen. Nein, er würde einen Stock hindurchstechen und es zusammen mit den Vagabunden und Bettlern, die sich am Rand des Marktplatzes herumdrückten, über einem Feuer braten
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