Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Wachsamkeit bereits wieder nachgelassen.
Die Rose in ihrer Hand … Genau! Derjenige, der nach Semjon gekommen und gegangen war, hatte sie ihr gegeben. Die Geste hatte sie zu dem Zeitpunkt durchaus verwirrt, doch es schien nicht nötig, ein Wort darüber zu verlieren. Eigentlich hatte sie angenommen, dass sie die Blume nur halten sollte, während er aus seinem Mantel schlüpfte.
Sie hatte die Rose höflich angenommen und keinerlei Fragen dahingehend gestellt, ob der Herr sie nun später einer Geliebten überreichen oder nur den Stiel gekürzt haben wollte, damit er sich die Blüte ans Revers stecken konnte. Nein, sie hatte damit gerechnet, dass er ihr schon sagen würde, was sie damit tun sollte.
Doch der ältere Herr hatte nichts dergleichen getan, sondern war einfach nur seltsam still gewesen, nachdem er aus seinem Mantel geschlüpft war. Er hatte das Kleidungsstück dicht an sich gepresst gehalten, so als würde er darauf warten, dass sie irgendetwas tat. Aber was hatte er konkret gewollt? Angelica konnte immer noch nicht klar denken.
Er hatte ihr den Mantel nur zögerlich geben wollen und angefangen, am Bund seiner Kniehose herumzufummeln, während sie diskret den Blick abgewendet hatte. Dabei hatte Angelica abwesend der aus der Ferne klingenden Musik aus dem gutgefüllten Ballsaal gelauscht und dabei deutlich gemerkt, wie der Lärm der Anwesenden immer lauter und der Ball immer ausgelassener wurde.
Ihre aus einem Pflichtgefühl heraus gestellte Frage, ob sie ihm vielleicht einen Knopf annähen sollte, hatte er zu ihrer großen Erleichterung mit einem gemurmelten Nein beantwortet. Er schwitzte stark und stand einfach nur mit hochrotem Kopf da. Sein ohnehin schmutziges Hemd war schon ganz feucht vor Schweiß.
Um genau zu sein, schien sein ganzer Körper eine Art fauligen Geruch zu verströmen, den sie zwar nicht richtig benennen konnte, der dem Gestank von Verwesung allerdings recht nahe gekommen war.
Angelica hatte die Nase gekräuselt und, ohne nachzudenken, die Rose davorgehalten, tief ihren lieblichen Duft eingeatmet und sich an der außergewöhnlichen Frische der Blume erfreut. Ohne weiter auf den unangenehmen Mann vor sich zu achten, hatte sie die straff eingerollten Blütenblätter berührt, sie vorsichtig voneinander getrennt und schließlich festgestellt, dass sich im Herzen der Rose ein seltsamer, kristallener Tau gesammelt hatte.
Das Verlangen, den Tau zu kosten und dem Blick des Mannes und seiner abstoßenden Erscheinung zu entkommen, hatte dafür gesorgt, dass sie eine Fingerspitze in den Saft getaucht, den Finger zu ihren Lippen geführt und dann … dann … dann einfach zu Boden gestürzt war. Dabei hatte sie einen kleinen Tisch umgeworfen, auf dem das Buch lag, indem sie normalerweise ihre Notizen machte.
Keuchend und voller Schrecken hatte sie sich dann irgendwie am Revers von Semjons Mantel hochgezogen. Sie konnte kaum stehen. Der männliche Duft, der von dem Kleidungsstück ausging, hatte ihr zwar kurzfristig einen Kräfteschub beschert, doch der ließ schon sehr bald wieder nach. Also hatte sie den Mantel losgelassen und war erneut zu Boden gesunken – diesmal auf die Knie. Der andere Mann hatte sie nur mit heiserer Stimme ausgelacht und dabei wie ein kläffender Köter geklungen.
Angelica hatte noch versucht, fortzukriechen und dem düsteren Raum und dem seltsamen, hinterlistigen Fremden irgendwie zu entfliehen. Der Stiel der Rose, den sie immer noch fest umklammert hielt, war in ihrer Hand so dick wie ein junger Baum geworden, und die Blüte schien auf die Größe eines menschlichen Kopfes angewachsen zu sein.
Ihre andere Hand hatte versucht, aus dem heruntergefallenen Buch eine Seite herauszureißen, um voller Verzweiflung einen Hilferuf zu Papier zu bringen. Doch noch bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte, hatte der Mann das Buch mit dem Fuß weggestoßen. Schluchzend hatte sie daraufhin die Rose weggeworfen, aber der Fremde hatte sie ihr wieder in die Hand gedrückt, ihre tauben Finger um den Stiel gelegt und so fest zugedrückt, bis die scharfen Stacheln in ihre Haut gedrungen waren.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
Angelica starrte voller Entsetzen auf die Rose, die sie immer noch fest in der Hand hielt. Die harmlos wirkenden Blütenblätter waren mit einer mächtigen und gefährlichen Droge behandelt worden. Sie warf die Blume in eine Ecke und rollte sich auf dem Boden zusammen, als sie Schritte hörte, die immer näher kamen.
Zwei Leute, bei denen
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