Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
dann in Ruhe lassen, bis sie wusste, ob die Geschichte nun ein gutes Ende oder aber – möge der Große Wolf sie davor bewahren – ein schlechtes gefunden hatte.
Wohin war Angelica Harrow nur verschwunden? Und wieso kümmerte ihn das nur so sehr?
Liebe war es nicht. Nein, davon war er weit entfernt. Eine Frau war verschwunden. Zwar hatte es sich zugegebenermaßen um eine wunderschöne Frau gehandelt, zu der er sich, wie durch ein unsichtbares Band verbunden, sofort hingezogen gefühlt hatte, aber in dem Raum waren keinerlei Blutspuren zu sehen gewesen. Und es waren auch sonst nirgendwo irgendwelche nachweisbaren Zeichen eines Kampfes zu erkennen. Abgesehen vielleicht von den Kratzern, die ihre Fingernägel hinterlassen hatten. Doch dieser Hinweis ließ sich in vielerlei Richtungen interpretieren. Es konnte auch gut sein, dass sie ungeachtet der Besorgnis ihrer Kollegen einfach wiederauftauchte und Semjon längst vergessen hatte.
Eigentlich wusste er rein gar nichts über sie. Und noch schlimmer, er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er ansetzen sollte. Der Wind wurde stärker. Er schlug den Mantelkragen hoch und senkte den Kopf, um seinen nackten Hals warm zu halten. Dann steckte er seine Hände in die Taschen und berührte den Zettel, auf den sie seinen Namen geschrieben hatte.
Die Berührung des Zettels sorgte dafür, dass sich ihm sofort die feinen Härchen im Nacken aufstellten – ein klares Zeichen, dass seine Wolfsnatur eine Spur von ihr gewittert hatte.
Wenn sie sich vom Haus der Congreves entfernt hatte, so, wie er das jetzt tat, würden seine übernatürlichen Instinkte vielleicht einer Fährte folgen, die sich nicht über einen Geruch, sondern eher über eine Ausstrahlung definierte. Semjon versuchte, die wenigen Aktivitäten auf der Straße auszuschalten und sich ganz und gar auf diese Ausstrahlung zu konzentrieren.
Sie war hier entlanggekommen. Er horchte tiefer in sich hinein, um seine zehn Sinne zu aktivieren. Sterbliche hatten nur fünf Sinne. Das Rudel, dessen Abstammung irgendwo zwischen dem vermischten Blut der Großen Wölfe und den uralten Helden der Steppe lag, war doppelt gesegnet. Neben Sehen, Hören, Berühren, Schmecken und Riechen besaß es noch fünf weitere Sinne, mit denen die Familie allerdings niemals prahlte. Magnetismus. Ein Erinnerungsvermögen, das Jahrhunderte einschloss. Ein Zeitempfinden, das sogar noch weiter zurückreichte. Die Fähigkeit, zwischen Unwahrheit und Wahrheit und zwischen Unreinheit und Reinheit zu unterscheiden. Und das unfehlbare Erkennen wahrer Liebe.
Wenn es bei der Bekanntschaft mit der jungen Unbekannten also um letzteren Punkt ging, war er auf der sicheren Seite, dachte Semjon bei sich und stemmte sich gegen den Wind.
Angelica. Der Name schien förmlich in der kalten Luft zu schweben, die er mit seinen schnellen Schritten durchschnitt. Plötzlich stellte Semjon voller Schrecken fest, je stärker ihre Spur wurde, desto ausgeprägter traten seine Wolfsmerkmale zutage. Seine Finger pressten sich in der Manteltasche zusammen und verwandelten sich nach und nach in haarige Pfoten mit langen, dicken Nägeln. Unter seinem Hemd war das deutliche Kribbeln eines borstigen Nackenfells zu spüren. Die längeren, festen Haare durchstießen zunächst den Leinenstoff des Hemdes, drangen dann durch die Seide seiner Weste, wurden schließlich aber von dem weitaus dickeren Material seines Mantels aufgehalten.
Verdammung. Wie das juckte.
Semjon spürte deutlich, wie die Haare anfingen, um seine Schnauze herum zu sprießen. Oder um sein Kinn herum, wie er sich selbst sagte. Aber das war für einen Mann, der sich allem Anschein nach auf dem Nachhauseweg befand, um mit ein wenig Schlaf den Nachwirkungen einer Feier Herr zu werden, nichts Ungewöhnliches. Und als ihm ein Hausmädchen auf dem Weg vom Markt entgegenkam, betrachtete sie die dunklen Schatten um seinen Unterkiefer mit geradezu unverstelltem Wohlwollen.
Frauen mochten einen gewissen Bartschatten. So war das nun mal. Und was seine Pfoten anging – oder Hände, wie er sie nannte –, die würde er einfach weiterhin tief in den Manteltaschen vergraben.
Als Semjon an einer Straßenecke ankam, wusste er nicht mehr recht, welche Richtung er einschlagen sollte. Sein immer stärker werdender Instinkt dirigierte ihn nach links und damit in die entgegengesetzte Richtung des St. James’s Square, seines eigentlichen Ziels. Er blickte die Straße hinunter, die seines Wissens auf ein ehemaliges Feld führte,
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