Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
das mittlerweile aber von der nicht enden wollenden Ausbreitung Londons verschluckt und von Spekulanten bebaut worden war.
Der kalte Wind des Winters schien genau aus dieser Richtung zu kommen und war stärker denn je. Aber da sein Instinkt ihm keine andere Wahl zu lassen schien, zog er die Schultern hoch und ging den Weg etwa zwei Meilen weiter.
Als die Straße mit einem Mal abrupt endete und er sich umsah, entdeckte er eine Reihe neu errichteter Stadthäuser und eine schäbige alte Taverne – und zwar die Art Taverne, die rund um die Uhr geöffnet war. Einfach an die Tür klopfen konnte er im Moment nicht, denn Semjon hatte keine Ahnung, wie er seine Pfoten mittels bloßen Willens wieder in Hände verwandeln konnte. Es passierte, wenn es passierte.
Aber wenn er in der Taverne ein ruhiges Eckchen für sich fand, würde er auch ohne die Hilfe dieser Körperteile ein Ale trinken können. Schließlich hatte er eine ausgesprochen lange Zunge. Als er die Tür schließlich aufstieß, war er überaus erfreut, eine Horde Männer im Gastraum sitzen zu sehen, die laut redeten und sangen. Er steuerte direkt auf die leere Kaminecke zu und setzte sich vor das schwache, aber dennoch wohltuende Feuer.
Ein junges Mädchen trat zu ihm und nickte, als er zwei Becher des besten Ales bestellte. Und es dauerte nicht lange, bis sie mit zwei großen Gefäßen zurückkehrte, über deren Ränder sich heftiger Schaum ergoss. Er dankte ihr, und das Mädchen nahm mit einem Zwinkern die Zwanzig-Shilling-Münze an sich, die er bereits großzügig auf den Tisch gelegt hatte.
Semjon krümmte sich ein wenig zusammen, damit niemand ihn sehen konnte, und leckte an dem Schaum. Dann ging er dazu über, seine Zunge tiefer in den Becher zu versenken, sodass es ihm gelang, jeweils die Hälfte des Inhaltes zu leeren.
Er setzte sich zufrieden auf.
«Fertig, oder?» Das junge Mädchen war an seinen Platz zurückgekehrt. «Noch eins?»
«Nein.»
Sie nickte und schien völlig unbeeindruckt von seiner knappen, direkten Antwort. Er befand sich in einer Taverne für Arbeiter, und jedwede Finesse wäre hier völlig fehl am Platz gewesen. Zwar hatte er sich mit seinem üppigen Trinkgeld ohnehin schon als Außenseiter verraten, aber die junge Frau würde ganz sicher nicht damit angeben. Schließlich würde sie dann Gefahr laufen, dass man ihr die Münze sofort wieder abnehmen könnte. Semjon erhob sich und setzte sich an der Bar ans Ende einer ganzen Reihe von Männern, deren breite Schultern und kräftige Arme auf eine Maurertätigkeit hindeuteten. Die rauen Kerle tranken Unmengen Ale und stopften sich dazu große Stücke Käse und Brot in den Mund.
«Wie ich sehe, ist hier ’ne Menge für euch zu tun, Jungs.» Er machte eine Geste in Richtung Tür, und die Männer schienen sofort zu verstehen, dass er auf die neu entstehenden Straßenzüge anspielte.
Der Maurer neben ihm knuffte einem Kollegen spielerisch in die Seite. «Ja. Deshalb müssen wir ja auch kräftig essen und trinken, um bei Kräften zu bleiben.»
«Sind die Häuser schon verkauft?», wollte Semjon wissen.
«Ja. Die meisten schon. Ein Gentleman ist sogar schon eingezogen. Die andern stehen noch leer, aber in diesen kalten Nächten schlafen dort einige Straßenhändler.»
«Man wird die armen Mistkerle schon noch früh genug rausschmeißen», erklärte ein stämmiger Mann. «Schade. Die sind wie wandelnde Läden. Und bei den vielen Arbeitern hier machen sie auch einen ganz guten Profit. Brüllen allerdings den ganzen Tag, wenn sie ihre Waren feilbieten.»
Die anderen Maurer grummelten zustimmend und beendeten langsam ihr Mahl.
«Dann wohnt hier also noch niemand?», fragte Semjon und hoffte, dass niemand wissen wollte, wieso er diese Frage stellte.
«Niemand außer dem Gentleman», erwiderte einer der Männer. «Und sein Kammerdiener. Ein übler Kerl. Stinkt so schlimm, als wäre er schon zwei Wochen tot und würde langsam verwesen. Aber er scheint dennoch sehr lebendig zu sein. Der kann noch jeden von uns unter den Tisch trinken.»
Semjon erinnerte sich an den Geruch von Fäulnis, der in dem Garderobenraum in der Luft gehangen hatte. Seine verstärkten Sinne – alle zehn – hatten ihn nicht ohne Grund an diesen Ort geführt.
«Tatsächlich? Zeigt ihn mir mal, wenn er hier reinkommt. Ich wette, ich kann mehr trinken als er. Und auch mehr als jeder andere hier.»
«Ach ja?», meinte der stämmige Mann und richtete sich mit der Aussicht auf eine Wette sofort auf. «Er ist soeben
Weitere Kostenlose Bücher