Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
sicher, dass er oft ausritt, denn ihrem gesenkten Blick war nicht entgangen, dass er muskulöse Beine und starke Waden hatte. Außerdem besaß er die aufrechte Haltung, die einem erfahrenen Reiter eigen war – vom Kopf mit den zerzausten dunklen Haaren über die breiten Schultern bis hin zu den langen Beinen.
Ihr schien er jedenfalls durch und durch ein Gentleman zu sein. Wenn er in der Nähe oder sogar direkt an einem der schönen Plätze an den Parks wohnte, die von der feinen Gesellschaft als Laufsteg genutzt wurden, dann war sie ihm vielleicht tatsächlich schon aufgefallen.
Doch da die innere Traurigkeit ihr fast die Kehle zuschnürte, rückten alle Gedanken an ihre kurze Begegnung mit Semjon Taruskin schnell in den Hintergrund.
Sie musste sich irgendwie selbst retten, denn zu Hilfe würde ihr ganz sicher niemand eilen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr übers Gesicht liefen und so heiß wie ihr eigenes Blut waren. Angelica hatte nicht die Kraft, sie fortzuwischen. Und als das letzte Licht des Tages am Himmel immer schwächer wurde, fiel sie in dem Lehnsessel in einen sorgenerfüllten Schlaf.
Irgendwann ließ sie allerdings ein leichter Schmerz in den Beinen zusammenzucken, und sie öffnete langsam die Augen. Sofort bemerkte sie den honigähnlichen Geruch von Bienenwachs, der in der Luft hing. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr und hielt eine Flamme an jede einzelne der Wachskerzen in dem großen Kandelaber.
Sie erkannte ihn sofort und versuchte so leise wie möglich aufzustehen. Doch da ihre Glieder von dem Sitzen in dem Lehnsessel ganz steif waren, gelang ihr das nicht sofort. Victor war also eingetreten, während sie so gut wie bewusstlos gewesen war. Zweifellos hatte er vorher durch das Schlüsselloch gespäht. Sie erinnerte sich gut, dass er das schon im Landhaus so oft getan hatte, dass sie irgendwann schließlich dazu übergegangen war, ein zusammengeknülltes Taschentuch in das Schlüsselloch zu stopfen, wenn sie sich aus- oder anzog.
«Habe ich dich geweckt, Angelica?», fragte er, ohne sich umzudrehen oder seine Tätigkeit zu unterbrechen.
Am liebsten hätte sie den Kandelaber gepackt, die brennenden Kerzen in sein Gesicht gedrückt und wäre um ihr Leben gerannt. Die junge Frau richtete sich leicht auf und stützte sich mit den Armen auf die Lehne des Sessels. Doch ihre Beine zitterten.
Plötzlich drehte er sich zu ihr um, sah sie an und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. Er schien ihr etwas fülliger geworden und nicht mehr der junge Dandy mit schlanker Figur, sondern ein kräftiger, erwachsener Mann zu sein.
Und auch das Böse, das ihn antrieb, schien an Stärke zugenommen zu haben. Das konnte sie in seinen Augen sehen.
«Offenbar schon. Du kannst dich wieder setzen. Ich werde dir das Tablett bringen. Du hast ja nicht einen Bissen gegessen.»
«Und ich werde auch nichts essen! Bring es fort!»
Sein Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. «Erteilst du mir etwa Befehle, meine liebe Schwester?»
«Ich bin nicht deine Schwester!»
Er zuckte nur mit den Schultern. «Laut Gesetz schon. Und wer bin ich, dass ich mich dem Gesetz entgegenstellen könnte.»
Angelica stand jetzt fest auf dem Boden und spürte, wie das Blut in ihren Beinen langsam wieder zu fließen begann. Trotzdem bezweifelte sie immer noch sehr stark, dass es ihr gelingen würde, an ihm vorbeizukommen. Von einer Flucht ganz zu schweigen.
«Was willst du von mir?», fragte sie mit verzweifelter Stimme. «Du warst es, vor dem ich fortgelaufen bin. Nachdem du … nachdem du versucht hast, mich anzufassen.»
«In der Tat.»
«Lass mich gehen», flehte sie. «Du kannst mich in diesem Haus doch nicht als Gefangene halten, Victor!»
«Bist du denn eine Gefangene?», erwiderte er in geradezu unerträglich ruhigem Ton.
Sie streckte ihm eine Faust entgegen – eine sinnlose Geste, die ihn lediglich zum Lachen animierte. «Du hast mich betäubt und entführt. Du oder irgendjemand, den du dazu beauftragt hast. Es war der Mann da draußen, richtig? Und als ich aufwachte, war ich in irgendeinem Raum an eine Wand gekettet. Wo befand sich dieser Raum? In diesem Haus oder in einem anderen?»
«So viele Fragen», wies er sie zurecht. «Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.»
Angelicas Röcke schwangen, als sie ein paar Schritte nach vorn trat. Victors Blick fiel sofort auf ihren Unterleib. Sie zuckte zurück, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen.
«Aber jetzt bist du doch nicht angekettet»,
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