Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
waren.
Doch Semjons Gedanken kehrten schnell wieder zu Angelica zurück. Als sie in dem Garderobenraum gestanden hatte, war ihr Blick voller Traurigkeit gewesen. Aber das, was er soeben in ihren Augen gesehen hatte, war panischem Schrecken gleichgekommen.
Sie hatte geschlafen und war allein gewesen. Es konnte sehr wohl möglich sein, dass man sie mit Gewalt in diesen entfernten Teil Londons gebracht hatte. So etwas kam durchaus vor.
Der Gentleman von eben – wenn er denn wirklich einer war – stieg in die Kutsche, die prompt kehrtmachte und sich in Richtung Stadtzentrum aufmachte. Soweit Semjon wusste, befand sich jetzt also nur noch der Kammerdiener im Haus. Es war allerdings durchaus möglich, dass sich noch weitere Dienstboten im Inneren aufhielten. Einfach hineinzustürmen und sie rauszuholen war also schlechterdings möglich. Nein, er musste zunächst mit ihr sprechen.
Semjon trat hinter der Mauer hervor, marschierte bis zum letzten Haus des Straßenzuges und ging so lange weiter, bis er an eine Stelle kam, wo er das Haus in aller Ruhe beobachten konnte, bis die Sonne unterging.
Mit etwas Glück würden sich die Wolfsmerkmale an seinem Körper wieder zurückbilden. Schließlich würde er Hände und Finger besser gebrauchen können als die Pfoten, die er jetzt hatte. Aber es wurde immer kälter, und er würde den Pelz noch vermissen, der seinen Körper wärmte.
Angelicas Herz raste, als sie von dem Fenster zurücktrat. Semjon wiederzusehen hatte sie über alle Maßen schockiert. Wenn sie selbst nicht mal wusste, wo sie sich befand, wie hatte er sie dann finden können?
Sie wehrte sich heftig gegen den Gedanken, dass vielleicht auch er ihr Feind war und dem Mann, der sie an der vergifteten Rose hatte riechen lassen, als Verbündeter diente.
Doch der Blick, den sie ausgetauscht hatten, passte einfach nicht zu dieser Vermutung. Seine Augen waren bei ihrem Anblick vor Freude aufgeleuchtet und hatten die Fassade des Hauses abgesucht, als hätte er das Gebäude noch nie gesehen. Und dann, als ihr Stiefbruder das Haus verlassen hatte, war sein Blick ihm mit den stechenden gelben Augen eines Wolfes gefolgt.
Angelica erinnerte sich nicht, dass seine Augen eine derart merkwürdige Farbe gehabt hatten – es sei denn, sie hatten das Gold der Vorhänge reflektiert, die am Ort ihres Kennenlernens gehangen hatten. Nein, sie kannte die Farbe seiner Augen. Sie waren haselnussbraun.
Obwohl die junge Frau sehr schnell hinter die Vorhänge zurück- und damit aus Semjons Blickfeld getreten war, hatte sie ihn immer noch sehen können. Und sie erinnerte sich an das helle Aufleuchten in seinen Augen, als er Victor in die Kutsche hatte steigen und fortfahren sehen. Doch als er kurz darauf weitergegangen und irgendwann ein für alle Mal verschwunden schien, hatte ihr Herz jeden Mut verloren.
Verzweifelt und mittlerweile halb verhungert, rollte sie sich auf dem Bett zusammen und weinte, als würde ihr das Herz brechen.
Als sie die Augen wieder öffnete, erhob sich ein neuer Mond am Himmel. Sie schloss ihre Lider wieder und betete um Schlaf. Doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen.
Victor war nicht in ihre versperrte Kammer zurückgekehrt, und das Tablett war auch noch nicht abgeholt worden. Angelica war unendlich erschöpft, dachte halbherzig über Fluchtmöglichkeiten nach und ließ ihre Gedanken ansonsten treiben.
Jetzt, wo das letzte Quäntchen Kraft in ihrem Körper nachließ und auch keine Hilfe in Sicht war, schien eine Flucht unmöglich. Also warte ich lieber einen besseren Augenblick ab, dachte sie bei sich. Iss etwas. Akzeptiere das Unausweichliche.
Plötzlich hörte sie leise Schritte. So leise, dass sie sie zunächst für Einbildung hielt. Angelica zitterte.
Der Türgriff drehte sich lautlos, und mit einem kaum hörbaren Geräusch wurde der Schlüssel ins Schloss gesteckt.
Angelicas unterdrückter Zorn flammte sofort wieder auf, und sie sah sich nach einem Gegenstand um, den sie Victor an den Kopf werfen konnte. Als die Tür sich schließlich tatsächlich öffnete, schnellte sie wie wild herum und erblickte …
Semjon! Er hatte einen Finger auf seine Lippen gelegt, um sie schweigen zu heißen.
Angelica griff nach einer Stuhllehne, um sich abzustützen.
Er winkte sie zu sich.
Sie schüttelte den Kopf.
Mit schnellen Schritten – fest und ruhig wie die eines wilden Tieres – kam er auf sie zu. «Sie müssen mit mir kommen», flüsterte er eindringlich. «Der andere Mann schläft. Das konnte ich
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