Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Reihe schäbiger Dächer und Schornsteine unterging, lenkte sie ihre schweren Schritte endlich in Richtung ihrer Unterkunft.
Plötzlich ratterte eine Pferdekutsche an ihr vorbei, auf der ein Kutscher saß, der halb zu schlafen schien. Und als Angelica den Kopf hob, sah sie für den Bruchteil einer Sekunde Victor darin sitzen.
Er erkannte sie und … tippte sich an den Hut.
Angelica stieß einen kleinen Schrei aus, während die Kutsche mit leichter Neigung um die nächste Ecke bog. Ungeachtet ihrer schmerzenden Füße rannte sie schnell hinterher.
Doch das Gefährt war verschwunden. Sie sah nur noch, wie es um eine weitere Ecke bog und sich schließlich ganz aus ihrem Blickfeld entfernte.
Voller Angst, aber auch voller Hoffnung trottete Angelica in ihre Herberge. Ihr schien es unmöglich, dass ein für sie so verabscheuungswürdiges Gesicht genau der Anblick sein sollte, der ihr Mut machte. Aber genau so war es.
Sie stieg die schiefe und krumme Treppe hoch, warf sich auf das Bett und sagte sich immer wieder, dass ihre Suche nicht aussichtslos war.
Semjon musste in London sein. Aus irgendeinem Grund wusste sie das. Die Frage war nur, wo?
Am nächsten Morgen gelang es ihr mehr schlecht als recht, sich zu waschen und ihre Haare einigermaßen passabel zu frisieren. Oder zumindest schien es in der zersprungenen Scherbe so, die sich hier Spiegel nannte.
Es wurde langsam Zeit, die etwas kostspieligeren Etablissements aufzusuchen, die Victors bevorzugte Laster anboten. Ihr waren tatsächlich auch einige Adressen aufgefallen, die sich an weibliche Kundschaft wandten. Hier wird für Miladys Vergnügen gesorgt. Diskrete Nachmittage. Fragen Sie nach dem besten Preis.
Doch damit sich die Türen zu diesen Häusern für sie öffneten, waren schon bessere Kleidung und ein Besuch im Frisiersalon vonnöten. Und sie würde in diesen speziellen Einrichtungen den vollen Preis bezahlen müssen.
Der Kassierer der Bank war ein grimmiger, kleiner Mann, der zunächst die Banknote und schließlich auch sie einer genauesten Betrachtung unterzog. Nach mehreren prüfenden Blicken erklärte er sich schließlich bereit, die Banknote gegen Münzen der Landeswährung einzutauschen. Angelica gab sich alle Mühe, ihre Stimme so klingen zu lassen, als würde Geld ihr nicht das Geringste bedeuten.
Das Klimpern der Zwanzig-Schilling-Münzen in dem Beutel um ihre Taille hatte etwas Tröstliches – erinnerte es sie doch daran, wie viel sie Semjon bedeutete.
Einige der Münzen wurden schnell für neue Kleider und Schuhe ausgegeben, und Angelica gönnte sich sogar ein richtiges Bad in einer neuen Einrichtung nur für Frauen. Jetzt war alles an ihr gewaschen, gezupft und geordnet.
Nachdem sie sich dem ersten Etablissement auf der neuen Liste genähert hatte, las sie zunächst das kleine Schild, das außen am Gebäude angebracht war. Miss Forsyths Akademie. Ausführliche Unterweisungen für Frauen. Angelica wollte und konnte jetzt nicht aufgeben. Es war durchaus möglich, dass in dieser sogenannten Akademie oder an einem ähnlichen Ort Hinweise zu finden waren, die sie zu Semjon führten. Sie durfte nur nicht die Zuversicht verlieren.
Also legte sie schweren Herzens die Hand auf die Klingel und läutete.
Aufgetan wurde ihr von einer nicht mehr ganz jungen, aber immer noch schönen Frau, die ein hochgeschlossenes Kleid trug. Zwar erinnerte sie in ihrer Habt-Acht-Haltung an eine Lehrerin, doch in ihrem Gesicht war auch eine gewisse Sinnlichkeit zu erkennen.
Sie warf Angelica einen durchdringenden Blick zu, der fast dafür sorgte, dass sie den Mut verlor.
«Ja?», fragte die Frau.
«Ich komme wegen der … Unterweisungen, die Sie anbieten», stammelte Angelica.
«Und auf wessen Empfehlung kommen Sie?»
Keine höflichen Floskeln. Keine gestelzten Worte.
Sollte sie es wagen, Victors Namen zu nennen? Das könnte ihn aufscheuchen, falls er zufälligerweise hier war. Aus einem Impuls heraus sagte sie schließlich nur: «St. Sin.»
Die Erwähnung dieses Namens verwandelte das Gebaren der Frau sofort in so etwas wie Freundlichkeit.
«Dann treten Sie ein.»
Beim Betreten des Hauses hatte Angelica von Anfang an das merkwürdige Gefühl, als würde diese Frau ihr zu nahe sein, ohne sie dabei eigentlich zu berühren. Sie spürte eine Hitze auf Rücken und Po, die ebenso intensiv zu sein schien wie der anfängliche Blick der Dame.
Angelicas Schritte wurden immer schneller, bis sie schließlich vor der einzigen Tür am Ende des Flurs innehielt,
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