Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
die sich sogleich wie von Zauberhand öffnete.
Angelica trat ein und schaute sich um.
Die Kundinnen der Akademie waren gut angezogen und trugen fast alle Schleier, um ihre Gesichter zu verbergen. Sie schienen unterschiedlichsten Alters und recht angespannt zu sein. Was musste das nur für ein starkes Verlangen sein, dass eine Frau dazu brachte, diesen Ort aufzusuchen, fragte sich Angelica, wusste aber gleichzeitig, dass es ihr nicht zustand, die Anwesenden dafür zu verurteilen.
Die Frau, die die Tür geöffnet hatte, führte Angelica zu ihrem Platz. Ihr fiel sofort auf, dass die anderen anwesenden Damen kein einziges Wort miteinander sprachen.
Während man wartete, betrat eine weitere Frau durch eine andere Tür den Raum. Sie war schöner und auch ernster als die erste und hatte einen Mann an ihrer Seite. Er war groß und kräftig, aber seine Gesichtszüge waren unter der Halbmaske nicht zu erkennen. Er sagte kein Wort, sondern zeigte scheinbar wahllos auf eine der Kundinnen. Die anderen Frauen starrten ausdruckslos geradeaus.
Es dauerte nicht lange, und Angelica hörte Klänge, die sie bereits kannte. Sehr schwach nur, aber vertraut. Sie ließ den Kopf hängen und spürte, wie verdrängte Scham und Wut wieder in ihr aufstiegen. Sie hatte keine Ahnung, ob sie es ertragen würde, lange genug dazubleiben, um herauszufinden, was hier vor sich ging.
Auf jeden Fall würde sie sich unter keinen Umständen diesen Praktiken aussetzen.
Ihre Sinne, aber besonders ihr Gehör, waren von Angst und Nervosität so verstärkt, dass ihr Atem aussetzte, als sie eine männliche Stimme hörte. Sie schien aus einem völlig anderen Raum in einiger Entfernung zu kommen.
Die Stimme war nur sehr schwach zu hören, gehörte aber zweifellos Victor. Die Worte blieben unverständlich, aber das spielte auch keine Rolle. Er war hier .
Der erste Teil ihrer Suche war also erfolgreich gewesen.
Angelica erhob sich von ihrem Stuhl und verließ den Raum. Dabei murmelte sie der Frau, die sie soeben begrüßt hatte, ein paar undeutliche Sätze der Entschuldigung zu.
Die nächsten paar Tage verbrachte Angelica damit, das Haus zu beobachten. In unterschiedlicher Aufmachung passierte sie das Gebäude immer wieder, ging aber niemals hinein. Am Nachmittag des letzten Tages sah sie schließlich Victor hineingehen.
Sie fand eine Stelle, wo niemand sie sehen konnte, und wartete darauf, bis er wieder herauskam. Es dauerte länger als eine Stunde, aber sie war bereit.
Als es so weit war, hatte er ein Grinsen auf dem Gesicht, an das sie sich nur allzu gut erinnerte. Ein durchtriebenes, überlegenes Grinsen. Er summte irgendetwas vor sich hin, als sie ihn schließlich abpasste.
Mit einem Stein.
Der stiernackige Mann, den sie bezahlt hatte, um gemeinsam mit ihr zu warten, legte Victor in seine Kutsche und brachte ihn in seine Wohnung nahe dem Flussufer. Dort fesselte er ihn an ein Bett ohne Matratze und überließ ihn dann Angelica. Es dauerte eine weitere Stunde, bis ihr Stiefbruder erwachte.
«Lass … lass mich in Ruhe», murmelte er undeutlich. Seine Augen waren blutunterlaufen, und auf seiner Stirn prangte eine riesige Beule.
«Wo ist Semjon?»
Ihr Gefangener stöhnte nur.
«Antworte, Victor. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich dich genau da, wo ich dich haben will.»
«T-tut mir leid. Woll… nich… wehtun. T-tut mir leid.»
Angelica tat seine Worte mit einer Handbewegung ab und hielt trotz seiner Fesselung einen gewissen Abstand.
«Sag mir, wo Semjon ist!»
«Nebenan.»
«Bei Mrs. Forsyth?»
«Forsy…, ja.»
Sie musterte ihren Gefangenen nachdenklich. Es schien nicht klug, ihn hierzulassen – auch wenn der stiernackige Mann versprochen hatte, ihn zu bewachen. Aber was, wenn er nun nicht die Wahrheit sagte?
Es war bereits dunkel, und sie würde zusammen mit Victor und ihrem Helfer die Kutsche nehmen müssen. Falls Semjon nicht in der Akademie war, dann würde ihr Stiefbruder es bereuen.
Rache war Rache.
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Kapitel Vierzehn
Nachdem die drei dann doch eine lange Nacht in dem baufälligen Haus an der Themse verbracht hatten, war jede Gegenwehr von Victor am nächsten Morgen wie weggeblasen. Er erzählte ihr genau, wie die zweite Entführung geplant und durchgeführt worden war, und auch, wo Semjon war – in einem Keller im Haus von St. Sin.
Um Wache zu halten, würde sie sich auf Old Harry verlassen. Das war der Name, den ihr stiernackiger Freund – der übrigens ganz und gar nicht alt war –
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