Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Fluss.
«Das da, nicht wahr?»
Angelica sah zu dem Haus hinauf, dessen Vorhänge alle geschlossen waren. Sie zog die Kapuze ihres Umhanges fester um ihr Gesicht.
«Ja, ich denke schon», erwiderte sie mit leiser Stimme.
Wegen des Karrens würde die Gruppe in dieser Gegend sicher auffallen, aber in der näheren Umgebung war niemand zu sehen. Nicht mal Straßenhändler. Das Viertel war weder besonders nobel noch runtergekommen. Das richtige Wort dafür lautete wohl solide . Und diese Beschreibung traf auch auf die Häuser zu.
Old Harry sprang von dem Karren und half Angelica herunter.
Die beiden tauschten einen Blick aus, als sie auf dem Gehsteig standen. Sein sturer Mut machte sich selbst in der Art bemerkbar, wie er stand. Solange er da war, würde niemand wagen, ihr etwas zu tun. Nicht für alles Geld der Welt.
Harry grinste sie an und sah dann die Straße hinunter. Von weitem war eine Gruppe Männer zu erkennen, die alle in etwa wie ihr Begleiter aussahen. Es handelte sich wohl um schlagkräftige Hafenarbeiter und dergleichen. Angeführt wurde der Trupp von einem riesigen Kerl, der zur Begrüßung stumm die Hand hob.
«Dann mal rein mit Ihnen, Missus. Ich passe von hier aus auf.»
Angelica nickte, erklomm die Stufen und nahm den Türklopfer in die Hand, der genauso solide und schlicht wie das Haus selbst war. Dann hämmerte sie vernehmlich damit an die Tür und lauschte, ob im Inneren irgendwelche Schritte zu vernehmen waren.
Es dauerte keine Minute, und sie hörte jemanden. Der Riegel auf der anderen Seite wurde aufgesperrt, und die Tür öffnete sich.
Vor ihr stand ein großer Mann, der sie mit funkelnden Blicken musterte. Er war unrasiert und trug unordentliche Kleidung, die aussah, als hätte er darin geschlafen. Zusätzlich nahm sie den starken Geruch von Whiskey und Gallensaft wahr.
Er sah sie voller Neugierde an.
Angelica stockte der Atem. Zunächst hatte sie in dem Unbekannten nicht ihren freundlichen Beichtvater aus der Kirche erkannt. Aber es bestand kein Zweifel – er und St. Sin waren tatsächlich ein und derselbe Mann.
Schockiert trat sie einen Schritt zurück und wäre fast gestolpert. Aber er hielt sie gerade noch rechtzeitig am Arm fest.
Harry tat ein paar bedrohliche Schritte nach vorn. Aus dem Augenwinkel erkannte die junge Frau, dass der größte seiner Freunde direkt neben ihm stand.
«Lassen Sie mich los!», forderte sie verzweifelt.
Sin tat wie ihm geheißen. «Ich dachte mir schon, dass Sie irgendwann kommen würden», sagte er nach einer kurzen Pause mit seltsam angenehmer Stimme. «Wie schön, Sie zu sehen, Miss Harrow. Ihr Stiefbruder hat mir schon so viel von Ihnen erzählt. Mehr, als sie mir selbst erzählt haben …»
«Lassen Sie das!», zischte sie ihn durch zusammengebissene Zähne an. «Das ist er, der da auf dem Karren liegt.»
Sin machte einen langen Hals, um einen Blick auf den Sack zu werfen. «Wirklich? Sie sind ja das reinste Wunderkind, Miss Harrow. Aber es sieht auch aus, als hätten Sie Hilfe gehabt.»
Er nickte Harry und dem großen Mann neben ihm zu und warf dann einen Blick auf den Rest der Bande, die sich in eine Gasse zurückgezogen hatte.
«Semjon Taruskin ist hier in Ihrem Haus», erklärte Angelica. «Bringen Sie ihn mir.»
Sin musste so laut lachen, dass er zu husten begann und ein paar Sekunden gar nicht wieder damit aufhörte. Als sein Körper nicht mehr unter seinem Lachen bebte, spuckte er zu Angelicas Ekel über das Geländer.
Dann wischte er sich den Mund ab und fixierte sie mit verstörenden Augen.
«Ich hege große Bewunderung für furchtlose Frauen», sagte er. «Ist das hier so etwas wie ein Austausch von Gefangenen?»
«Ja.» Angelica wusste nicht, ob sie ihm nun Harry und Konsorten auf den Hals schicken oder aber ihre eigene Frau stehen sollte.
«Aber ich habe zwei Gefangene und Sie nur einen.»
Sie schaute ihn verwirrt an.
«In meiner Obhut befinden sich Semjon und Antoscha – der kleine Kerl mit Brille. Die jetzt allerdings zerbrochen ist, fürchte ich.» Er hielt kurz inne. «Möchten Sie eintreten?»
Angelicas Gedanken rasten – sowohl wegen der akuten Gefahr als auch wegen der Erkenntnis, diesem bösen Mann buchstäblich alles über sich erzählt und Absolution von einem Fremden gesucht zu haben, von dem sie dachte, sie würde ihn niemals wiedersehen.
Das würde sie für den Rest ihres Lebens bereuen – obwohl dieses Leben sicher nicht mehr lange dauern würde, wenn sie dieses Haus betrat.
«Nein»,
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