Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Gefängnis, das von den Behörden geführt wurde und in dem es vom Pöbel nur so wimmelte.
Sollte es ihr gelingen, Victor zu finden, würde sie auch Semjon finden. Sie betete, dass seine animalischen Instinkte sie irgendwie zu ihm hinziehen würden.
Das Rudel hatte sich mittlerweile erneut um einen Tisch im großen Saal versammelt, war diesmal aber alles andere als angesäuselt. Angelica stahl sich die letzten Stufen hinunter und verließ das Haus durch die Vordertür.
Niemand sah sie fortgehen.
Sie hielt sich an die Seitenstraßen und vermied die Gegend um Mayfair, wo das kleine Häuschen stand, in dem sie zuerst Zuflucht gefunden hatte. Sie hielt den Kopf nach unten gebeugt, und das auffallende Haar war mit einem Umhang bedeckt. Angelicas Schritte eilten über das Kopfsteinpflaster. Ihre Gedanken rasten, wo sie wohl zuerst nach Semjon suchen sollte. Also blieb sie an einem kleinen, öffentlichen Garten stehen, der mit seinen kahlen Bäumen und der halbgefrorenen Erde zwar nicht gerade ein aufmunternder Anblick war, aber immerhin abgelegen genug lag, um dort die Gedanken zu ordnen.
Sie sank auf eine Bank und grübelte, bis ihr schließlich tatsächlich etwas einfiel. Die Erinnerung daran sorgte allerdings dafür, dass sie innerlich zusammenzuckte.
Mr. Congreve war Abnehmer eines Kalendariums gewesen, das jedes Jahr von den Bordellbesitzern herausgegeben wurde. Darin waren nicht nur die Preise der speziellen Leistungen aufgelistet, sondern auch die Frauen, die sie anboten. Solch ein Führer wäre zumindest ein Anfang, mit dessen Hilfe sie Nachforschungen anstellen konnte.
Die Bordellwirtinnen würden sicher annehmen, dass sie nach einer entsprechenden Tätigkeit suchte. Aber wenn es darum ging, Semjon zu finden, dann würde sie die taxierenden Blicke schon ertragen.
Angelica wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, denn sie wusste, sein Herz würde vor Schmerz brechen, wenn er sie so sähe. Aber was konnte er schon tun, um sich selbst zu retten? Oder um sie zu retten?
Genau wie sie zuvor würde er wahrscheinlich irgendwo angekettet und seiner Wolfskräfte beraubt sitzen.
Sie versank immer tiefer in ihren Gedanken, versuchte sich in den Kopf ihres Stiefbruders zu versetzen und sich vorzustellen, was er wohl tun würde. Sein Geschmack konzentrierte sich auf Peitschen und voyeuristisches Beobachten – das wusste sie nur allzu gut.
Das engte die Frage nach Semjons Aufenthaltsort schon mal ein. Aber sie würde sich ein Kalendarium wie das von Mr. Congreve beschaffen und dann die Bordelle aufsuchen müssen, die unter dieser Kategorie geführt waren. Angelica nahm all ihren Mut zusammen und machte sich auf in Richtung Soho, um nach einer Buchhandlung zu suchen, die auf verrufene Kundschaft spezialisiert war.
Wie sich herausstellte, gab es davon recht viele. Ihre Füße waren längst wund gelaufen, als sie schließlich an ein Geschäft gelangte, das sicher genug schien, um auch von einer Frau betreten zu werden.
Der Inhaber warf ihr einen kurzen Blick zu, als sie eintrat. «Kann ich Ihnen behilflich sein?»
Die Worte, die ihr Anliegen beschreiben konnten, blieben ihr im Hals stecken. Wie sollte sie sie nur laut aussprechen?
Ich bin auf der Suche nach einem Bordellkalendarium. Einem, in dem all die speziellen Leistungen aufgelistet sind. Und zwar mit Adressen, wenn Sie so freundlich wären.
Angelica drehte sich um und hörte nur noch die kleine Klingel des Ladens, als sie aus der Tür rannte. Draußen lief sie prompt zwei Männern in die Arme, die das Geschäft gerade betreten wollten. Die beiden pressten sich an ihr vorbei und lachten dreckig, als die junge Frau sie beiseiteschubste.
Und weiter ging es mit stolpernden und schlingernden Füßen über das Kopfsteinpflaster. Irgendwann fiel sie tatsächlich hin und konnte sich gerade noch an einer Mauer abstützen. Dahinter war ein widerliches Stöhnen zu hören, das ihr zunächst schreckliche Angst einjagte – bis ihr schließlich klar wurde, dass es sich um eine Straßendirne handelte, die mit einem Mann dahinterstand, der gerade mit lautem Fluchen seinen Höhepunkt erreichte.
Angelica musste einen Brechreiz unterdrücken. Als sie mit der Hand auch noch eine dicke, feuchte Papierrolle berührte, die in die Mauer gestopft war, zog sie ihre Finger sofort zurück. Sie wollte gar nicht wissen, wie die Rolle dorthin gekommen und wozu sie benutzt worden war. Ach! Jetzt klebte auch noch ein Streifen Papier an ihren Fingern. Angelica schüttelte wie wild
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