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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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bratendem und verkohltem Menschenfleisch war nicht das Werk Gottes, sagte ich mir, sondern des Teufels. Die Welt um mich her verlor jede Schärfe, alles war verschwommen. Himmlischer Vater, vergib mir meine Sünden, betete ich. Vergib mir die vielen Male, die ich dich erzürnt habe. Erbarme dich meiner Seele. Ich schloss die Augen, überzeugt, dass ich sie erst im Jenseits wieder öffnen würde.
    Als ich Wochen später zu Bewusstsein kam, saß Rodrigo bei mir. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Du bist in einem Krankenhaus in Messina. Die heilige Muttergottes hat dich gerettet«, sagte er. Ich hatte unerträgliche Schmerzen in der Brust und in der nutzlosen Hand. Ich schrie. Die Schwestern flößten mir tropfenweise Wasser ein, aber das bloße Atmen war eine Qual, als stünde das Innere meiner Brust in Flammen. Nachdem ein paar Tropfen Laudanum die Pein etwas gelindert hatten und ich ruhiger wurde, erklärte mein Bruder, dass er mich am Abend nach der Schlacht am Strand unter einem Berg toter Soldaten gefunden hatte.
    Die nächsten zwei Jahre lag ich siech in italienischen Hospitälern auf verwanzten Strohlagern, auf Stationen voller Kranker, Verletzter, Verstümmelter, Vereiterter, Verrückter, Sterbender und Männer, die bei lebendigem Leib verfaulten. Viele Nächte wachte ich schreiend auf, vom Grauen gepackt, dass das griechische Feuer mich zu einer brennenden Fackel verwandelt hatte oder dass ich der einzige Überlebende einer blutigen Schlacht war und durch eine verlassene Ödnis zog, eine Landschaft übersät mit abgetrennten Gliedmaßen und verrottenden Leichen, die erschreckender war als jede Vision der Hölle, die ich mir hätte ausmalen können.
    Rodrigo verließ die Armee und nahm eine Stellung an, damit ich die richtige Pflege und etwas Besseres zu essen bekam als die wässrige Brühe, die im Hospital aufgetischt wurde. Als ich wieder genügend bei Kräften war, um mit meiner zusammengeflickten, vernarbten Brust und der unnützen Hand in die Welt hinauszugehen, war ich nur noch die Hälfte des Mannes, der ich einmal gewesen war. Und ich kam mir doppelt so alt vor als ich tatsächlich war.
    Drei lange Jahre schlichen nach den glorreichen Tagen der Schlacht von Lepanto vorüber, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als nach Spanien zurückzukehren und meine Familie zu sehen. Ich wollte nicht auf fremdem Boden sterben. Mehr als fünf Jahre waren seit meiner Flucht aus Madrid vergangen. Ich hatte genug von dem nie endenden Blutvergießen, genug davon, ständig zu neuen Schlachten gegen die Türken aufzubrechen, und auch genug von den verseuchten Hospitälern, in denen meine Kameraden auf ihren Bettstätten verfaulten und von Maden aufgefressen wurden.
    Als ich Rodrigo sagte, ich sei willens, notfalls auch zu Fuß nach Spanien zurückzugehen, sagte er: »Bruder, ich bin bereit, mit dir heimzukehren. Meine Neugier auf Krieg und Heldentum ist befriedigt. Ich möchte nach Hause, Arbeit finden und unsere Eltern unterstützen. Ich würde gerne heiraten und Kinder bekommen.«
    Mit dem verspätet ausgezahlten, jämmerlichen Sold, der uns für unsere Dienste als Soldaten zustand, buchten wir auf der Galeere El Sol eine Überfahrt von Neapel nach Barcelona. Mir entging die Ironie meiner Rückkehr nicht: Ich war aus Spanien geflohen, um meine rechte Hand nicht zu verlieren, und kehrte zurück mit einer linken, die wie ein lebloser Fortsatz an meiner Seite herabhing und am Handgelenk in einem knotigen, geschwollenen Stumpf endete, einem mit Blut gefüllten Hautsack, der beim geringsten Kratzer aufplatzte. Es war die Hand eines Ungeheuers.
    Es war kein günstiges Omen, auf einem allein segelnden Schiff nach Spanien zurückzukehren – so konnten wir allzu leicht Beute der Korsaren werden. Doch die Alternative wäre gewesen, wochenlang zu warten, bis eine ganze Flotte ablegte, und das Geld ging uns gefährlich zur Neige. Bei Lepanto hatte die christliche Marine den kostspieligen Fehler begangen, die Osmanen nicht völlig auszulöschen, als sie uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren. Kaum ein Jahr später hatten sie sich neu formiert, hatten sich frisch bewaffnet und wieder die Kontrolle über das Mittelmeer gewonnen, wo sie sich erneut als der Fluch aller Seefahrer erwiesen sowie der Menschen, die in küstennahen Orten lebten. Ich hatte Teile meines Fleischs und meiner Knochen für nichts als eine Kostprobe des Ruhms in Lepanto gelassen. Es war, als wäre die Schlacht völlig umsonst geschlagen worden.

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