Die Leidenschaft des Cervantes
an ein paar Zeilen meines geliebten Garcilaso de la Vega erinnern, dessen Verse ich früher im Schlaf hatte rezitieren können.
Einer unserer Männer bekam ein heftiges Fieber, in seinem Urin und in seinen Fäkalien war Blut. Ich erinnerte mich an den Spruch meines Vaters: »Singen vertreibt Sorgen.« Damit ihm seine letzten Stunden erträglicher wurden, stimmten Rodrigo und ich die patriotischen Lieder an, die wir immer gesungen hatten, wenn wir gegen die Türken in die Schlacht zogen. Der Mann hatte vor Schmerzen gestöhnt, doch als wir sangen, wurde er ruhiger und hörte uns aufmerksam zu, auf seinem qualvoll verzerrten Gesicht breitete sich ein feines Lächeln aus. Zwar konnten wir ihn mit unseren Liedern dem Tod nicht entreißen, doch ihn zumindest eine Weile vergessen machen, dass er starb.
Unsere Häscher machten sich nicht die Mühe, die Leiche wegzuschaffen. Der Bauch des Toten quoll immer mehr auf, bis er eines Nachts mit ohrenbetäubendem Lärm platzte, und auf alle, die in der Nähe saßen, regnete es verwesende Organteile herab. Dann begann der Leichnam zu brennen. Der große Tumult weckte die Rudersklaven, die zu brüllen begannen und mit den Ketten rasselten. Bis die Piraten nach unten kamen, sah der Tote aus wie ein verkrüppelter Ast, der zu Holzkohle verbrannt war.
In den folgenden Nächten wachten viele von uns schreiend und am ganzen Leib zitternd aus Albträumen auf. Einige würgten ihre Nachbarn, weil sie sie für Piraten hielten, andere riefen in Kleinkindersprache nach ihrer Mutter. Ein Mann brüllte, wir seien in der Hölle und müssten für unsere Sünden büßen, einer schrie: »Töte mich, Herr! Wenn du dich dieses Sünders auch nur ein wenig erbarmst, töte mich jetzt! Lass mich keinen Tag länger leben!«
Rodrigo hatte eine Idee. »Lass uns doch ein Lied schreiben«, schlug er mir vor. »Du überlegst dir den Text, und ich komponiere die Melodie.« Obwohl die Korsaren ihm seine vihuela weggenommen hatten, verbrachten wir viele Stunden damit, unser Lied zu schreiben. Als unser Schiff eines Nachts von einem tosenden Sturm hin und her geworfen wurde, sodass wir alle fürchteten, in Ketten auf den Meeresgrund zu sinken, stimmten Rodrigo und ich es an:
Inmitten des Meeres,
des aufgewühlten, unheilvollen Meeres,
sehen wir Gefangenen
mit sehnsüchtigen Augen
dorthin, wo unser Spanien liegt.
Mit den Wogen hin und her
schaukelt des Schiffes menschliche Fracht.
Weinend singen wir:
O Spanien, wie teuer du uns bist.
Das Glück hat uns verlassen,
in Ketten gefesselt sind wir,
unsere Seelen in großer Gefahr.
Tränen stürzen vom Himmel herab,
während wir gebracht werden
in ein Land von Zauber und schwarzer Magie.
O Spanien, wie teuer du uns bist.
Ein paar Männer baten, wir möchten das Lied wiederholen. Beim dritten Mal hatten sich einige den Text bereits eingeprägt, und über das gemeinsame Singen vergaßen wir die wütende See. Und während wir unser Lied sangen, dessen Text ich geschrieben hatte wie zum Beweis dafür, dass ich noch am Leben war, empfand ich eine Ahnung von Freiheit.
Der Morgen graute. Hinter einem Nebelschleier waren Umrisse auszumachen, als ragte ein gewaltiger Bienenkorb vor dem Fuß eines üppig grünen Bergs auf. Weiße Häuser türmten sich übereinander – das konnte nur der Hafen von Algier sein. Ich blieb ruhig sitzen für den Fall, dass ich träumte, rieb mir kopfschüttelnd die Augen, als die Konturen der Stadt wie der Turm von Babel vor mir erschienen und kurz darauf wieder im Nebel verschwanden. Doch die schnarchenden, furzenden Männer und der Kot, der uns über und über verdreckte, waren nur allzu real. Als die Minuten vergingen und der Himmel heller wurde, erkannte ich deutlich die Wellenbrecher, die als Hindernisse errichtet waren und Algier unangreifbar machen sollten.
Ich stupste Rodrigo an. »Wir sind da«, sagte ich. Einer der Männer hörte mich, und bald waren alle wach, fieberten vor Aufregung und Angst. Manche weinten, sie fürchteten, unsere Ankunft wäre lediglich das Signal zur Fortsetzung ihrer Qualen. Ich allerdings wusste, dass meine Aussichten zu überleben an Land größer waren als in diesem höllischen Stauraum.
Es war helllichter Morgen, als wir den berüchtigten Hafen von Algier schließlich klar vor uns liegen sahen. Je näher wir dem Land kamen, desto lauter hörte ich das Dröhnen von Trommeln, das von frohlockenden Trompeten unterbrochen wurde. Die Galeonen mit uns an Bord fuhren in den Hafen ein, feuerten
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