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Die Leidenschaft des Cervantes

Die Leidenschaft des Cervantes

Titel: Die Leidenschaft des Cervantes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaime Manrique
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verschlucken, die alles daran setzten, in unseren Körper einzudringen und uns von innen her zu zerfressen.
    Tage und Nächte und wieder tagelang zwang uns die niedrige Decke direkt über unseren Köpfen, auf dem Gesäß sitzend auszuharren, dicht an dicht gedrängt wie Salzfische in einem versiegelten Fass. Rodrigo fand einen Platz in meiner Nähe, wir waren einander ein großer Trost. Am vorderen Ende des Stauraums befand sich ein kreisrundes Fenster, durch das ich hin und wieder einen Blick auf das Meer und den Himmel bekam. Im Boden war ein Loch eingelassen, durch das wir uns erleichterten, allerdings war es so schwierig, sich auf derart engem Raum zu bewegen, dass wir uns häufig einfach an unserem Sitzplatz erleichterten. Durch die extreme Beengtheit waren bald alle Klassenunterschiede aufgehoben. Nach einer Weile verhielten sich Adelige, Prälaten und Hidalgos allesamt wie Tiere, die um eine Überlebenschance kämpften.
    Verschiedenste Flöhe und Läuse weideten sich an unserem Blut. Fette schwarze Kakerlaken liefen über die Wände, angriffslustige Ratten huschten zwischen unseren Füßen umher. Bisweilen wurden ein Eimer mit frischem Wasser und ein Becher in den Stauraum hereingereicht, und jeder Mann durfte sich einen halben Becher herausschöpfen und trinken und dann den Eimer weiterreichen, bis alle getrunken hatten. War der Eimer leer, ehe alle ihre Ration bekommen hatten, mussten die Unglückseligen, die leer ausgegangen waren, warten, bis uns Tage später wieder ein Eimer gebracht wurde. War der Durst übermächtig, tranken wir den Urin der anderen. Im durchweichten Zwieback, den wir hin und wieder bekamen, wanden sich fette Würmer. Wir verlegten uns darauf, die Flöhe zu essen und die Läuse, die sich in unseren Haaren eingenistet hatten, später dann fingen wir die Kakerlaken, Ratten und Mäuse, droschen sie mit Füßen und Fäusten zu Tode, zerrissen sie und schlangen das Fleisch und die Eingeweide hinunter.
    Ausgewachsene Männer weinten untröstlich, weil sie nichts über das Schicksal ihrer Frauen und Kinder erfuhren. Die Ehemänner quälte die Sorge, ihre Frauen und Töchter könnten in einen türkischen Harem geraten, die Väter von Söhnen packte Entsetzen bei der Vorstellung, ihre Jungen würden an türkische Sodomiten verkauft. Einem von uns war es gelungen, einen Rosenkranz zu verstecken, und jetzt fanden wir Trost darin, im Flüsterton das Vater Unser zu sprechen und das Ave Maria aufzusagen. Nur durch Beten konnte ich dieser Folterfahrt entfliehen, deren Ziel die Hölle sein musste. Die Edelmänner unter uns wussten, dass ihre Familien das Lösegeld sofort bezahlen würden, aber wir anderen fragten uns sorgenvoll, was die Zukunft für uns bereithalten mochte. Meine Eltern würden niemals genügend Geld aufbringen, um meinen Bruder und mich freizukaufen, vielleicht nicht einmal einen von uns. Welche Zukunft stand mir mit meinem nutzlosen Arm bevor? Würde ich ein Bediensteter in Mamís Haus werden? Ich weigerte mich zu glauben, dass Rodrigo und ich den Rest unseres Lebens in Algier verbringen würden. Meiner jämmerlichen Lage zum Trotz wuchs in mir die unerschütterliche Überzeugung, dass ich, mit welchen Mitteln auch immer, bei erster Gelegenheit in die spanische Stadt Oran westlich von Algier fliehen würde. Und von dort würde ich nach Spanien zurückkehren, wenn nötig, auf einem Baumstamm treibend.
    In manchen Nächten erwachte ich aus einem Albtraum, und ringsum war es derart dunkel und die Luft derart verpestet, dass ich im ersten Moment glaubte, ich würde noch an dem Strand in Griechenland liegen. Als ich damals, in der Nacht nach der Schlacht von Lepanto, unter einem Berg toter Soldaten vergraben zu mir gekommen war, hatte das Bisschen Luft, das zu mir vordrang, den ekelerregenden Geruch von brennendem Menschenfleisch mit sich getragen.
    Verzweiflung ist ansteckender als Hoffnung. Doch so flüchtig meine Hoffnung, diese Qual zu überleben, auch war, ich wollte sie nicht fahren lassen – etwas anderes hatte ich nicht. Eines Tages fragte mich ein spanischer Hidalgo , der jetzt wie ein kranker, halb verhungerter Bettler aussah, wie sie in jeder spanischen Stadt herumlungerten: »Cervantes, stimmt es, dass Ihr ein Dichter seid?« Als ich bejahte, sagte er: »Warum sagt Ihr uns nicht eines Eurer Gedichte auf, um uns ein wenig die Langeweile zu vertreiben?«
    Ich gehöre nicht zu den Dichtern, die sich ihre Gedichte einprägen. In meinem erbärmlichen Zustand konnte ich mich kaum

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